6.11.2021, 09 Uhr
Wunderbare Solidarität mit Reiner Kunze
Die Resolution der West-Berliner Akademie der Künste im November 1976
© Akademie der Künste
Der Titel von Reiner Kunzes Buch Die wunderbaren Jahre (1976) war traurige Ironie. Nichts von dem, was der damals noch im thüringischen Greiz lebende Autor seinen Lesern in kurzer Prosa darbot, zeugte von „Wunderbarem“. Die Texte drehten sich um die misslichen Teile der Lebenswirklichkeit in der DDR – ideologische Gängelei, Argwohn, Kontrolle, Machtmissbrauch, seelische Schikane von Kindern und Jugendlichen sowie das Erzeugen absurder Feindbilder: „Sechsjähriger. Er durchbohrt Spielzeugsoldaten mit Stecknadeln. Er stößt sie ihnen in den Bauch, bis die Spitze aus dem Rücken tritt. Er stößt sie ihnen in den Rücken, bis die Spitze aus der Brust tritt. Sie fallen. ,Und warum gerade diese?‘ – ,Das sind doch die anderen.‘“
Kunze hatte das Manuskript heimlich in die Bundesrepublik übermittelt. Ein Jahr später ist es bei S. Fischer in Frankfurt am Main erschienen. Auch zu dieser Zeit ging kritische Literatur an und über Grenzen. In der Riege der DDR-Kulturwächter schlugen Empörungswellen hoch. Kunze, ohnehin schon lange dissidenzverdächtig, wurde aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen. Das hieß: Berufsverbot, Maßregelungen, Sanktionen auch von Angehörigen, Existenzbedrohung schlechthin. Gleichzeitig wurden 15.000 in der DDR gedruckte Exemplare von Kunzes Kinderbuch Der Löwe Leopold eingestampft. Man fürchtete wohl, dass selbst ein Spieltier zum Symbol des Widerstands gegen den Staat erhoben werden könnte. In einer aufgeheizten Kampagne, die an den verordneten „Volkszorn“ im Nationalsozialismus erinnerte, wurde der Dichter Kunze zum „Feind der DDR und des Sozialismus“ erklärt. Da war er nicht der einzige, aber diese Leidensgesellschaft bedeutete keinen Trost.
Der Skandal um Reiner Kunze wurde öffentlich. Die Akademie der Künste in West-Berlin protestierte und zeigte sich ihrem Mitglied verbunden. Briefe und Telegramme gingen zwischen Ost und West hin und her – unter anderem zwischen Stephan Hermlin, Günter Kunert, dem Akademiepräsidenten, und natürlich Reiner Kunze. Einspruch, Bedauern, Empörung, Hilfeersuchen, Daumendrücken, Vermittlungsversuche, Solidaritätsbekundungen – es war aussichtslos. Und nie konnte sich der Absender sicher sein, dass sein Schreiben den Adressaten erreichte oder nicht doch im Vorfeld von den DDR-Kontrollorganen abgefangen wurde. Die Furcht der kopf-und gedankenlosen Regierung, dass das schöne Bild vom Sozialismus durch Systemkritik subversiv beschädigt werden könnte, war damals groß, und die staatstreuen Genossen haben schnell um sich gebissen. Nein, es waren keine „wunderbaren Jahre“.
So wurde auch der Einladung an Reiner Kunze zur Teilnahme an der Akademie-Novembertagung 1976 vom Kulturministerium der DDR nicht stattgegeben, anders gesagt, es gab keine Antwort auf den Antrag zur Ausreisegenehmigung nach West-Berlin. Auf besagter Tagung verfassten Mitglieder der Abteilung Literatur eine Protestresolution, die direkt auf dem Schreibtisch Erich Honeckers landen sollte. In dieser Resolution wurde dem Staatsratsvorsitzenden mit unmissverständlichen Worten nahegelegt, die unwürdige Verleumdungskampagne gegen den Dichter einzustellen, seinen Ausschluss aus dem Schriftstellerverband rückgängig zu machen und von nun an kritische Literatur zuzulassen. Anderenfalls müsse man glauben, dass „ein unbequemer Schriftsteller ins Exil getrieben werden“ soll. Unterzeichnet wurde der Brandbrief am 7. November 1976 von fast sechzig Mitgliedern.
Auch diesmal blieb eine Antwort aus. Stattdessen drohte dem Dichter und seiner Frau eine mehrjährige Haftstrafe. Gesundheitlich angeschlagen und verzweifelt, weil er die DDR eigentlich nicht verlassen wollte, stellte Reiner Kunze im April 1977 einen Ausreiseantrag. Drei Tage später durfte er ins westliche Deutschland ausreisen. Sein Wunsch war aus dem Zwang geboren: „Treten Sie ein, legen Sie Ihre / Traurigkeit ab, hier / dürfen Sie schweigen.“
Kerstin Hensel