5.6.2019, 11 Uhr
Serielle Musik im Urtext – Neuausgabe der Sonate pour piano von Jean Barraqué erschienen
Im Zusammenwirken der Akademie der Künste und des Bärenreiter-Verlags konnte ein wegweisendes editorisches Langzeitprojekt zum Abschluss gebracht werden. Mit der Sonate pour piano von Jean Barraqué wird erstmals ein Werk aus der Blütezeit der seriellen Musik in einer quellenkritischen Ausgabe vorgelegt. Das Projekt wurde im Rahmen der Einrichtung des Jean-Barraqué-Archivs der Akademie der Künste realisiert.
Jean Barraqué (1928–1973) zählt zweifellos zu den faszinierendsten Protagonisten der seriellen Musik, auch wenn er – nicht zuletzt wegen der enormen aufführungspraktischen Ansprüche, die seine Werke stellen – im Musikleben bis heute eine Randexistenz führt. Durch seinen Lehrer Olivier Messiaen und die Freundschaften mit Karel Goeyvaerts und Pierre Boulez gelangte er schon um 1950 ins Zentrum der seriellen Bewegung und hat sich frühzeitig auch mit den Aporien und Problempunkten der neuen Kompositionsmethode auseinandergesetzt.
Die Sonate pour piano entstand in den Jahren 1950 bis 1952 und ist das erste seiner Werke, das Barraqué für gültig erklärte. Als dem wohl frühesten Versuch, das damals neue Idiom des Serialismus mit der Idee der großen durchkomponierten Form zu vereinbaren, kommt ihr historische Bedeutung zu. Barraqués einsätzige Sonate weist eine Dauer von 40 Minuten auf, während die seriellen Werke des zeitlichen Umfelds, gleich ob von Boulez, Stockhausen oder Nono, relativ kurz sind oder sich aus mehreren Sätzen zusammensetzen. Zur Erreichung seines Ziels lockerte Barraqué den seriellen Rigorismus und brachte das Prinzip der Prädeterminierung der verschiedenen Parameter in unterschiedlichen Strengegraden zur Anwendung. Auf diese Weise eröffnete sich genügend Spielraum, um der großen Form, wie er sie anstrebte, Dynamik und Entwicklungspotential zu verleihen und äußerste Strukturiertheit mit großer expressiver Wucht zu vereinen.
Heribert Henrichs Neuausgabe leistet Pionierarbeit, insofern hier zum ersten Mal ein Notentext aus dem Kernrepertoire der seriellen Musik einer kritischen Edition unterzogen wurde. Dies setzte nicht nur eine minutiöse Untersuchung aller Skizzen und Handschriften voraus, sondern bedeutete auch erhebliche analytische Anstrengung, ließen sich doch editorische Entscheidungen oft nur unter Rekurs auf die komplexen Konstruktionsgrundlagen des Werkes treffen. Dabei musste sich der Editor nicht nur in dem heiklen Spannungsfeld von prädeterminierter Ordnung und kompositorischer Entscheidung bewegen, sondern stand auch dem Phänomen der Interaktion verschiedener – gelegentlich auch einander widerstreitender – Strukturebenen gegenüber.
Auf dem neu edierten Notentext basiert auch eine bei Winter & Winter erschienene Einspielung der Sonate durch den Pianisten Jean-Pierre Collot, bei der es sich – nach Aufnahmen u.a. von Yvonne Loriod, Roger Woodward, Pi-Hsien Chen und Herbert Henck – immerhin bereits um die neunte Platten- oder CD-Veröffentlichung von Barraqués Werk handelt.
Jean Barraqué: Sonate pour piano
hg. von Heribert Henrich
2 Bände (Partitur, 53 Seiten /
Kommentar dt./engl., 132 Seiten, 2 Faksimiles)
Akademie der Künste, Berlin / Bärenreiter Verlag, Kassel 2019
ISMN 979-0-006-56760-7, € 59
Ansprechpartner: Dr. Heribert Henrich, Musikarchiv