Rätselhaftes Zeichen
Mitten im Brief erscheint ein seltsames Zeichen, eingerahmt. Es ist weder chinesisch oder japanisch noch Bildtelegrammsprache, sondern ein Fantasiesymbol, erfunden, damit die Empfängerin, es ist die Geliebte des Verfassers, antworten kann, ohne dass dessen Ehefrau Verdacht schöpft. Brecht war nicht unbedingt ein Meister der Chiffrierkunst. Seiner Jugendliebe Bi hatte er schon mal die Zeile „937 712 4937 (11)952!" gesandt; was sie nicht auszählen konnte, wird sie gefühlt haben. Hier nun ist die Konstellation prekär, und wir sehen Brecht als Regisseur seiner verwickelten Beziehungen, besorgt und unruhig, zerrissen zwischen Fürsorge, Verrat und Sehnsucht.
Dieses Schriftstück ergänzt die vor fünf Jahren im Suhrkamp Verlag erschienene Ausgabe der Briefe von Brecht und Helene Weigel, „ich lerne: gläser + tassen spülen". Die glückliche Erwerbung des Archivs verdankt sich dem Akademie-Mitglied Klaus Völker, der das Autograf von Ruth Berlau erhalten hat. Brecht-Briefe sind auf dem Markt an sich keine Seltenheit, frühe, persönliche und handschriftliche aber schon. Dabei ist das ein durchaus typisches Schreiben Brechts: schnörkellos und voller Esprit, beginnend mit einer Skizze der Situation des Absenders, dann die Konzentration auf das Gegenüber und den Zweck der Mitteilung, Witze, Zärtlichkeiten und allfällige Aufträge eingeschlossen. Die Zeilen sind rasch hingeworfen, nicht ohne ein paar orthografische Eigenheiten, die hier unangetastet bleiben.
Seit Anfang April 1924 war Brecht mit seiner Ehefrau Marianne und der gemeinsamen Tochter Hanne auf -Capri. Marianne litt an einer Lungenkrankheit und brauchte Erholung. Brecht trommelte innerlich. In Berlin wartete Kiepenheuer auf Manuskripte. Und es wartete Helene Weigel, schwanger von Brecht, der gemeinsame Sohn Stefan, hier Peter und Piètro genannt, kam im November zur Welt. Bis zur Trennung von Marianne sollte es noch dreieinhalb Jahre dauern. Und erst im April 1929 heirateten Brecht und Weigel.
Vermutlich hätte Brecht nie eine Zeile geschrieben, wenn ihm nicht so oft langweilig gewesen wäre. Starke Langeweile kannte er, krankhafte, absolute, ungeheure, aber eben auch: „Genügend Langeweile für Arbeit!" Es hat den Missmut des Verfassers wohl noch verstärkt, dass er sich in einer Umgebung aufhielt, die andere zum Schwärmen bringt, ihn jedoch aggressiv machte. Die Insel im Tyrrhenischen Meer wird mit besonders drastischen Etiketten bedacht. Eines davon scheint verbreitet gewesen zu sein; Otto Dix nannte später seine Wahlheimat am Bodensee die „zum Kotzen schöne Landschaft". Aber „Gigerl"? So hieß der Hahn in Oberösterreich. Im Wien der Jahrhundertwende hatte man das auf einen Geck übertragen, einen Modenarren, Stutzer. -Capri spreizte sich wie ein Pfau, meinte der Dichter. Kann das wundern bei einem, von dem die Zeile stammt: „Und die Natur sah ich ohne Geduld"?
Und das Zeichen? Ein möglichst unauffälliges, -willkürlich gewählt; der Buchstabe ‚t' für „Telegramm" versteckt sich darin. Die Situation verlangte Improvisationsgeschick. Helene Weigel sollte das Zeichen in ihre Antwort übernehmen, wenn es ihr nicht gelingen würde, die finanziellen Hürden der Einreise allein zu überwinden. Bis 1928 bestand in Italien eine Visumspflicht; zeitweise hatten Touristen 500 Mark vorzuweisen. Ob Brecht der Geliebten das Einladungstelegramm schicken musste, ist nicht bekannt. Aber der Code wirkte. Helene Weigel vernahm den Lockruf und machte sich, die Geheimhaltung wahrend, auf den Weg nach Florenz, wo das Liebes-paar sich Ende April 1924 treffen konnte.
Autor: Erdmut Wizisla, Leiter des Bertolt-Brecht-Archivs und des Walter Benjamin Archivs der Akademie der Künste, Berlin. Seit Mai 2013 ist er als Honorarprofessor an der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin tätig.
Erschienen in: Journal der Künste 01, Januar 2017, S. 34-35