Theodor Fontane, die Akademie der Künste und Carl Hauptmann
„Aber ich habe einen Haß gegen das Alte,
das sich einbildet, ein Ewiges zu sein.“
Mit diesem Bekenntnis zum Wandel beschließt Theodor Fontane am 18. September 1894 einen Brief an seinen Freund Karl Zöllner. Er bezieht sich auf einen Artikel aus der Vossischen Zeitung über die Große Berliner Kunstausstellung, die am 16. September endete. Kritisiert wurde, dass bis zu diesem Zeitpunkt nicht veröffentlicht worden war, welche Kunstwerke mit Auszeichnungen bedacht werden sollten, und dass der Kunst in Preußen „jene Freiheit der Bewegung“ fehle, die etwa in München vorhanden sei. Die politische Dimension ist es, die Fontane interessiert: „[E]s ist mehr ein politischer als ein Kunstartikel.“
Fast zwanzig Jahre früher, 1876, hatte Fontane sich selbst in eine Situation gebracht, die ihn die Strukturen preußischer Kunstpolitik deutlich spüren ließ. Er hatte sich erfolgreich um die Position des Ersten Ständigen Sekretärs der Preußischen Akademie der Künste zu Berlin bemüht. Nun war er Beamter, hoch dotiert, aber den persönlichen Spannungen innerhalb der Akademie ausgesetzt, ihren bürokratischen Regularien verpflichtet, ohne eigenen Gestaltungsspielraum. Fontane ertrug das nur wenige Monate, zum Unwillen seiner Frau. Ihr gegenüber begründete Fontane seinen Entschluss mehrfach, so etwa am 15. August 1876: „Ich ersehne den Moment, wo ich aus dieser wichtigtuerischen Hohlheit, aus diesem Nichts, das mit Feierlichkeit bekleidet wird, wieder heraus sein werde. […] Ich passe in solch dummes Zeug nicht hinein.“
Fontanes Qualitäten als Journalist, Autor und Kritiker zählten in der Akademie dieser Zeit tatsächlich nicht viel – die Sektion für Literatur wurde erst 1926 ins Leben gerufen. Nach dem unglücklichen Intermezzo von März bis Oktober 1876 kehrte er zu seinen literarischen Arbeiten zurück und nahm seine Tätigkeit als Theaterkritiker für die liberale Vossische Zeitung wieder auf. Dort besprach er im Januar 1887 sehr interessiert die erste Berliner Aufführung von Ibsens Die Gespenster. Im Oktober 1889 reagierte er auf die Uraufführung von Gerhart Hauptmanns vom Publikum größtenteils als skandalös empfundenen Stück Vor Sonnenaufgang derart positiv, dass sich der Chefredakteur zu einer Distanzierung veranlasst sah. Fontane, zu diesem Zeitpunkt schon fast 70 Jahre alt, war von Gerhart Hauptmann, dem „wirklichen Räuberhauptmann der schwarzen Realistenbande“, von den naturalistischen Stücken, in denen er einen „entphrasten Ibsen“ am Werke sah, begeistert. Er wurde zum – allerdings nicht unkritischen – Fürsprecher der „Freien Bühne“ und ihrer jungen Autoren.
Gerhart Hauptmann war im Berliner Kulturbetrieb längst bekannt, da trat auch sein älterer Bruder Carl, bereits Mitte dreißig, als Autor literarischer Texte in die Öffentlichkeit. Anfang 1896 verschickte er sein im Oktober zuvor in Wien uraufgeführtes Stück Waldleute an eine Reihe von Personen, von denen er sich Austausch und Förderung versprach. Die Schriftstellerin und spätere Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé dankte per Postkarte. Carl Hauptmann hakte nach und fragte sie offenbar direkt nach ihrem Urteil über sein Stück, ein in Schlesien spielendes und vorwiegend in schlesischem Dialekt verfasstes Drama über ein Liebespaar, dessen Vereinigung im letzten Moment – möglich wird. Der Vater der jungen Frau ist Förster und hat einen Wilderer erschossen, den Vater ihres Geliebten. Als der Sohn des Wilderers aus Rache den Förster tödlich verletzt, beharrt dieser sterbend darauf, dass er sich versehentlich selbst angeschossen habe.
Ein versöhnliches (wenngleich nicht allzu realistisches) Ende, das in Fontanes 1890 erschienenem, in Schlesien und den USA angesiedeltem Wildererroman Quitt undenkbar wäre und auch von der zeitgenössischen Kritik eher skeptisch beurteilt wurde. Lou Andreas-Salomé antwortete am 16. April 1896 ausführlich: „Ich finde nicht, daß [die Waldleute] so ‚trübe Gäste‘ sind, wie Sie sie in Ihrem Begleitschreiben nannten, aber was sie mir anfangs fremd machte, war der Umstand, daß ich sie mir nicht in einem intimen Verhältniß zu Ihnen selbst vorstellen konnte – oder, anders ausgedrückt: Sie darin wiederzufinden, das kann einfach daran liegen, daß ich von Ihnen nur ein sehr kleines Stück kenne.“
Carl Hauptmann schickte die Waldleute auch an Theodor Fontane, dessen Kontakt zu seinem Bruder ihm sicherlich geläufig war, und er erhielt umgehend Antwort.
Berlin 12. Febr. 96.
Potsdamerstr. 134.c.
Hochgeehrter Herr,
Ergebensten Dank für
Ihre „Waldleute“,
die Ihre Güte an mich
gelangen ließ. Ich freue mich
auf die Lektüre und schließe
von heut ab zwei Hauptleute
in meine Gebete ein.
Wenn Sie Ihren Herrn
Bruder sehn, meine besten Grüße.
In vorzüglicher Ergebenheit,
Th. Fontane
Ob Fontane den eigenen Ton, den Lou Andreas-Salomé in dem Stück vermisste, fand, wenn er es überhaupt las? Und mit welchen Gefühlen mag Carl Hauptmann Fontanes kurzen Brief aufgenommen haben? Zu Weihnachten 1896 schickte er noch seinen neuen Band Sonnenwanderer hinterher, wofür Fontane sich zwar auch wieder bedankte, aber eben nur das.
Carl Hauptmann versuchte, sich eigenständig als Autor zu etablieren, in Abgrenzung zu seinem jüngeren, von Anfang an erfolgreicheren Bruder. Es gelang ihm zeitlebens nicht. 1896 mochte er sich noch Hoffnungen gemacht haben. Fontanes Brief vom 12. Februar, der Carl und Gerhart umstandslos zu „zwei Hauptleute[n]“ zusammenschließt und Carl dann auch noch bittet, den Bruder-Rivalen zu grüßen, leistete diesen Hoffnungen gewiss keinen Vorschub. Vielmehr gab er einen Vorgeschmack auf Weiteres: So etwa bot ein „Hauptmann-Abend“ des Vereins zur Förderung der Kunst am 8. Januar 1905 in Berlin Vortrag, Lesungen und Vertonungen von Texten beider Hauptmann-Brüder. Auch in Nachrufen auf Carl Hauptmann, der bereits 1921 starb, oder in späteren Artikeln war es ihm lange nicht vergönnt, ohne den Vergleich zu seinem Bruder dargestellt zu werden. Eines hatten sie jedoch gemeinsam: den dringenden Wunsch, neue Themen, neue Ausdrucksformen zu finden. Gerhart Hauptmann wurde als Vertreter moderner Literatur von Fontane protegiert und nicht nur als Autor geschätzt; Briefe und auch private Einladungen zeugen davon. Carls Versuch hingegen, ebenfalls die Unterstützung des einflussreichen Kritikers zu erlangen, scheiterte. Dokumentiert ist dies in dem hier abgebildeten Brief, einem der wenigen Fontane-Autografen im Archiv der Akademie der Künste, abgesehen von den Schriftstücken, die Fontane während seiner verhassten Tätigkeit als Sekretär anfertigte und die im Historischen Archiv der Akademie erhalten sind.
Autorin: Helga Neumann arbeitet als Archivarin im Literaturarchiv der Akademie der Künste.
Der Nachlass Carl Hauptmanns ist über etliche deutsche und polnische Archive zerstreut. Im Carl-Hauptmann-Archiv der Akademie der Künste liegt nur der hier abgebildete Brief vor, der zweite, datiert vom 25. Dezember 1896, befindet sich in einem weiteren, kleineren Nachlassteil im Deutschen Literaturarchiv Marbach.
Erschienen in: Journal der Künste 11, November 2019, S. 46-47