18.7.2022, 09 Uhr

„Immer eine Träne in Wien zurückgelassen“ – Georg Kreisler zum 100. Geburtstag

Georg Kreisler bei der Veranstaltung „Letzte Lieder – Georg Kreisler liest Autobiographisches“ in der Akademie der Künste, Berlin, 31.10.2009

Zu Georg Kreislers 65. Geburtstag übermittelte der damalige Wiener Bürgermeister Helmut Zilk im Juli 1987 die Glückwünsche der „hassgeliebte[n]“ Stadt, versehen mit dem Ausdruck persönlicher Bewunderung. Im Antwortbrief erklärte Kreisler, dass seine „gelegentlich harten Worte über die Stadt Wien gerechterweise nicht so sehr als Kritik, sondern eher als ein Anliegen aufgefasst werden“ sollten und dass er zwar mehr als einmal, aber nie gern aus der Stadt emigriert sei: „Wie andere einen Koffer in Berlin, so habe ich immer eine Träne in Wien zurückgelassen.“

Dieser kleine, aber herzliche Briefwechsel zwischen zwei Wienern mit bewegten Biografien befindet sich im Georg-Kreisler-Archiv der Akademie der Künste. Er dokumentiert Kreislers komplexe Beziehung zu Wien und den Wienern. In einem späteren Brief, vom 29. Januar 1988, wird Zilk die Verleihung der Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt in Gold an Kreisler ankündigen.

Ein zwiespältiges Verhältnis zu seiner Geburtsstadt hatte Georg Kreisler (1922–2011) sein Leben lang. 1922 als Sohn eines jüdischen Rechtsanwalts ebenda geboren, musste er 1938 als 16-Jähriger mit seiner Familie in die USA fliehen. Schon als Kind ein talentierter Musiker, erhielt er von seinen Musiklehrern Empfehlungsschreiben, die ihm im Exil mit der Ausbildung weitergeholfen haben.

Kreisler wurde 1943 amerikanischer Staatsbürger und nahm als Soldat der US-Army am Zweiten Weltkrieg teil. Als Dolmetscher verhörte er deutsche Kriegsgefangene – u.a. prominente Kriegsverbrecher wie Julius Streicher und Hermann Göring. Nach dem Krieg ließ er sich in New York nieder, wo er in Nachtclubs auftrat und für schwarzhumorige Lieder wie „It’s great to lead an antiseptic life“ bekannt wurde. Ein auf Englisch geschriebener Roman und mehrere Kompositionen für Klavier entstanden in dieser Periode.

Nach 10 Jahren in New York und insgesamt 17 Jahren Exil, zog Kreisler 1955 zurück nach Wien. Seine lange europäische Karriere als Liederschreiber und Kabarettist nahm hier mit Klassikern wie „Tauben vergiften“ ihren Anfang. Wien verließ er 1975 wieder und lebte danach in München, Berlin, Basel und Salzburg. Sein Leben lang verweigerte er sich den Gattungsgrenzen und schuf Werke in vielen unterschiedlichen Genres: Lieder, Romane, Theaterstücke, Radio- und Fernsehproduktionen, Opern, Kompositionen für Solo-Instrumente und Orchester, Essays, autobiografische Texte etc. Es wundert daher kaum, dass ein so breit gefächertes Werk in einem interdisziplinären Archiv wie dem der Akademie der Künste seine Heimstatt gefunden hat.

Kreislers eingangs erwähntes künstlerisches „Anliegen“ ist die Kritik an der Nachkriegsgesellschaft, ihren Machtverhältnissen und Tabus, aber auch am Weiterleben des Antisemitismus. Immer kompromisslos und direkt, bleibt stets der Humanismus im Zentrum seines Schaffens: „Gerade einem Kabarettisten sollte nichts Menschliches fremd sein, nur Unmenschliches“, so Kreisler. Das Lied „Wien ohne Wiener“ ist ein gutes Beispiel für Kreislers schwarzen Humor und eine Gesellschaftskritik mit oft absurd-surrealen Wortspielen, in denen er besonderes Gespür für den wienerischen Dialekt beweist.

Obwohl „für immer Wiener“ blieb er bis zum Ende seines Lebens US-amerikanischer Staatsbürger. Um die österreichische Staatsbürgerschaft zurückzuerlangen, hätte ausgerechnet er vor Gericht gehen müssen: „... im Jahre 1945, nach Kriegsende, wurden die Österreicher, die 1938 Deutsche geworden waren, automatisch wieder Österreicher, aber diesmal nur diejenigen, die die Nazizeit mitgemacht hatten. Wer unter Lebensgefahr ins Ausland geflüchtet wurde, also auch ich, bekam seine österreichische Staatsbürgerschaft nicht mehr zurück“, schrieb Kreisler 1996 in einem offenen Brief.

Seit 2007 kann man im Georg-Kreisler-Archiv der Akademie der Künste ein Werk erkunden, das eine lange Schaffensperiode umfasst. Von der Nachkriegszeit bis zu seinem Lebensende findet man hier Manuskripte und Druckbelege von veröffentlichten und unveröffentlichten Werken aller Gattungen.

Im Archiv befindet sich ebenso eine umfangreiche Dokumentation seines Wirkens: Veranstaltungsprogramme, Zeitungsausschnitte, Aufsätze und wissenschaftliche Arbeiten zu seinem Werk, nebst biografischer Unterlagen, Fotos und Kreislers Korrespondenz mit Personen und Institutionen.


Ansprechpartnerin: Eva May

Brief von Helmut Zilk an Georg Kreisler, 16. Juli 1987

Brief von Helmut Zilk an Georg Kreisler, 16. Juli 1987

Brief von Georg Kreisler an Helmut Zilk, 14. August 1987

Brief von Georg Kreisler an Helmut Zilk, 14. August 1987