23.8.2022, 09 Uhr
„Eine Frau reist nach Indien“ – zum 100. Geburtstag der Journalistin und Schriftstellerin Inge Deutschkron
Am 23. August 2022 wäre Inge Deutschkron 100 Jahre alt geworden. Ihr umfangreiches Archiv, welches die Akademie der Künste im Jahre 2005 übernommen hat, ermöglicht einen intensiven Blick auch auf die Anfänge ihres Schreibens, die untrennbar mit ihrer langen Reise durch Südostasien 1954 verbunden sind.
„Würde ich können, würde ich Ihnen meinen Schutzengel schenken, damit Sie bis 105 leben“, schrieb 2007 eine zwölfjährige Schülerin an Inge Deutschkron.
Inge Deutschkron überlebte eine Zeit, in der Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Mitbürger in Deutschland Staatsdoktrin war. Sie überlebte nicht nur durch „eine Portion Glück“, sondern dank der Hilfe vieler aufrechter Menschen („stiller Helden“) und nicht zuletzt der eigenen Courage. Auch der Neuanfang nach dem Krieg war nicht leicht. Die Euphorie, die sie und ihre Mutter bei der Auswanderung nach Großbritannien, wo der Vater überlebt hatte, im August 1946 begleitete, erhielt bereits bei der Einreise durch den kühlen und ungastlichen Empfang durch die englische Einwanderungsbehörde einen Dämpfer. Inge Deutschkron fand eine Stelle als Sekretärin bei der Sozialistischen Internationale. Dies eröffnete ihr die Möglichkeit, auf Einladung Mitte der 1950er-Jahre, Indien, Burma, Nepal und Israel zu bereisen. Eine glückliche Fügung, denn sie wollte die Welt kennenlernen. Seit Jahren hatte sie sich für Asien, vor allem für Indien interessiert. Ihr Reisepass ist buchstäblich bis zur letzten Seite gefüllt mit Stempeln, z.B. Bombay, Calcutta, Karachi, New Delhi, Rangoon, West Bengal, Nepal, Port Said. Zumindest für die damalige Zeit waren das exotische und verheißungsvolle Namen, und dass eine Frau sich allein in diese Region begab, war bemerkenswert und ungewöhnlich zugleich. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln reiste sie quer durch das Land, durchstreifte die Großstädte, war zu Gast bei einfachen Leuten auf dem Land und lernte so während des monatelangen Aufenthaltes das Leben und den Alltag der indischen Bevölkerung, insbesondere auch das der Frauen kennen. Das sichtbare Aufeinanderprallen von extremer Armut und maßlosem Reichtum war dabei die prägendste Erfahrung. Ihr am 20. Juli 1955 im Nordwestdeutschen Rundfunk ausgestrahlter Reisebericht „Eine Frau reist nach Indien“ gibt davon Zeugnis ab.
Andere Menschen an ihren Erlebnissen teilhaben zu lassen und den Westen aufzufordern, sich für die Beseitigung der teils menschenunwürdigen Lebensumstände der indischen Bevölkerung einzusetzen, wurden ihr zur Berufung. Deutschkron begann zu schreiben. Indien war, wie sie Jahrzehnte später formulierte, ihre „Reise zum Beruf“. 1955 nach Deutschland zurückgekehrt, verfasste sie zahlreiche Zeitungsartikel, Rundfunkbeiträge und Vorträge, die teils auch in ausländischen Medien publiziert wurden.
Das Klima in der von Alt-Nazis unterwanderten „Bonner Republik“ war rau, gerade für eine Frau und streitbare Journalistin, die schonungslos und offen ihre politische Meinung vertrat. Ab 1959 war Inge Deutschkron als freie Deutschland-Korrespondentin der noch heute existierenden israelischen Abendzeitung Ma’ariv tätig. Durch ihre klugen und engagierten Beiträge zu verschiedensten Themen erarbeitete sie sich einen erstklassigen Ruf. 1972 kehrte sie desillusioniert der Bundesrepublik den Rücken und wanderte nach Israel aus. Beharrlich erhob sie von dort aus ihre Stimme gegen das Vergessen der nationalsozialistischen Gräueltaten.
Mit dem räumlichen Abstand zu Deutschland konnte sie nach Jahrzehnten ihre Kindheits- und Jugenderinnerungen niederschreiben. Sie erschienen 1978 unter dem Titel Ich trug den gelben Stern. Von Volker Ludwig 1989 unter dem Titel Ab heute heißt du Sara auf die Bühne des Berliner Grips-Theaters gebracht, wurde das Stück zu einem riesigen Erfolg und erreicht bis heute vor allem junge Menschen. Auf sie zählte die 2001 nach Berlin zurückgekehrte Inge Deutschkron und gab bis ins hohe Alter in Schulen und Jugendeinrichtungen Auskunft über die furchtbaren Erlebnisse eines jüdischen Mädchens während der Nazidiktatur. Zudem fand, was 1954 als „Reise zum Beruf“begann, in unzähligen publizistischen Beiträgen und in zwölf Büchern ihren Niederschlag.
Ihren 105. Geburtstag, den ihr die Schülerin wünschte, wird Inge Deutschkron nicht erleben. Sie starb am 9. März 2022. Am 23. August 2022, dem 100. Geburtstag, erinnern wir an die eindrucksvolle Überlebende der Shoa, deren Archiv die Akademie der Künste bewahrt.
Ansprechpartnerin: Maren Horn