10.11.2022, 15 Uhr
Vor 100 Jahren – Herbert Ihering verleiht Bertolt Brecht den Kleist-Preis
In einem Lebenslauf für die Exilzeitschrift Das Wort notierte Bertolt Brecht 1937, über sich selbst in der dritten Person sprechend: „Geboren 1898 in Augsburg. Studierte Naturwissenschaften und Medizin. Kam dann als Dramaturg und Regisseur an die Münchner Kammerspiele. Schrieb ein Stück ‚Trommeln in der Nacht‘, das 1923 über alle deutschen Bühnen ging, und bekam den höchsten deutschen Preis für Dramatik, den Kleistpreis.“
Die seit dem 101. Todestag Heinrich von Kleists von der Kleiststiftung vergebenen Preise waren als „Ehrengaben aufstrebenden und wenig bemittelten Dichtern deutscher Sprache, Männern und Frauen, zu gewähren“. Zu den Preisträgern der ersten Jahre gehörten Richard Sorge, Oskar Loerke, Arnold Zweig, Walter Hasenclever, Leonhard Frank und Hanns Henny Jahn. Vor Brecht war nur eine einzige Frau ausgezeichnet worden: Agnes Miegel (1916, mit Heinrich Lersch). Nach ihm innerhalb der ersten Epoche des Preises, also bis 1933, Anna Seghers, 1928, und Else Lasker-Schüler, die sich 1932 mit Richard Billinger die Ehrung teilen musste.
Als Juroren fungierten sogenannte „Vertrauensleute“: Schriftsteller wie Richard Dehmel, Heinrich Mann und Alfred Döblin oder Kritiker wie Paul Wiegler, Bernhard Diebold oder Herbert Ihering. Der Theaterkritiker des Berliner Börsen-Couriers hatte im Jahr 1922 das Amt des allein entscheidenden Jurors inne. Am 10. November teilte der Vorsitzende der Kleistiftung, Fritz Engel, Brecht mit, dass Ihering ihm den diesjährigen Preis zuerkannt hatte. Ehrende Erwähnungen wurden für Ernst Barlach, Ernst Weiß und Ulli Klimsch ausgesprochen. Ihering selbst gab seine Entscheidung am 13. November in seinem Börsen-Courier bekannt. Dazu druckte die Zeitung die erste Szene aus dem „noch unvollendeten Drama“ Hannibal. Dass der aufstrebende Dichter noch kaum ein Begriff war, zeigt sich an der Falschschreibung seines Namens: statt für Bert oder Bertolt entschied sich der Börsen-Courier für Berthold und Bertold.
Ausschlaggebend für Ihering war zweifellos der Erfolg von Brechts erster Uraufführung Trommeln in der Nacht, sechs Wochen zuvor an den Kammerspielen München. In der Begründung für die Preisvergabe verwies der Kritiker auf dieses Stück, aber auch auf Brechts Erstling Baal und das Stück Im Dickicht (später Im Dickicht der Städte): „Brecht ist Dramatiker, weil seine Sprache zugleich körperlich und räumlich empfunden ist.“
Vom Himmel gefallen ist der Preis nicht. In Vorwegnahme seiner späteren Maxime, dass „für die Durchführung der Experimente, die der Umgestaltung des Theaters dienen“ die „Beschaffung von Ruhm“ erforderlich ist, hatte Brecht Strippen gezogen. Ein Notizbucheintrag, wohl aus dem Herbst 1922, lautet: „Ihering bitten, die Geschichte / der deutschen Theatererfolge schreiben / zu lassen! / !!! / Was? Warum? / Was nicht? Warum nicht? / Die Literaturgeschichte nach dem Erfolg. / Literatur als Macht.“ Und da Macht nur Macht ist, wenn sie ungeteilt bleibt, hatte Brecht im Vorfeld angesagt, dass eine Teilung des Preises, wie sie zuvor sieben von zehn Mal vorgenommen worden war, für ihn nicht akzeptabel sei.
Tatsächlich trug der Preis erheblich dazu bei, dass der Stückeschreiber aus Augsburg sich in Deutschland und später in der Welt durchsetzte. In Anspielung auf den Namen seiner Zeitung sprach Ihering von einer „Brecht-Hausse“, also einem Aufschwung (von Aktien), dem erst Hitler ein Ende bereiten sollte.
Mehr als eine willkommene Begleiterscheinung war die Preissumme von 10.000 Mark. Brecht hatte nämlich darauf spekuliert, wie es einem Brief vom Juni 1922 zu entnehmen ist: „Übrigens habe ich keinen Pfennig in der Tasche und darum denke ich mitunter darüber nach, ob mein Freund [Hermann] Kasack etwas dazu tut, daß ich den Kleistpreis kriege, was mich über Wasser höbe.“
Klaus Völker hat darauf verwiesen, dass eine ganze Reihe von Autoren Herbert Ihering ihren Durchbruch verdankte. Brecht spielte für den Theaterkritiker dabei eine dauerhafte Rolle. Als der Krieg zu Ende war, trug Ihering als Chefdramaturg dazu bei, dass der Dichter und Regisseur 1949 im Deutschen Theater in Berlin Mutter Courage und ihre Kinder inszenieren konnte.
Die frühe Entdeckung Iherings bleibt dennoch ein Datum. Nach der Uraufführung von Trommeln in der Nacht, am 5. Oktober 1922, hatte der Kritiker im Berliner Börsen-Courier geschrieben: „Der vierundzwanzigjährige Dichter Bert Brecht hat über Nacht das dichterische Antlitz Deutschlands verändert. Mit Bert Brecht ist ein neuer Ton, eine neue Melodie, eine neue Vision in der Zeit.“
Ansprechpartner: Erdmut Wizisla