10.1.2023, 09 Uhr

„Das Ich, das die Dünnwandigkeit seiner privaten Existenz begriffen hat“ – zum 100. Geburtstag von Ingeborg Drewitz

Ingeborg Drewitz wurde am 10. Januar 1923 in Berlin geboren. Die Stadt, in der sie bis zu ihrem Tod im November 1986 ihr ganzes Leben verbrachte, ist in vielen ihrer Texte präsent. Für Drewitz ist „das Ich, das die Dünnwandigkeit seiner privaten Existenz begriffen hat“ der Ausgangspunkt des literarischen Schreibens, wie sie 1974 in einer Zeitungsumfrage zum Thema Schriftsteller und Politik angibt. Es geht ihr um ein Schreiben, das immer im Kontext der „sozialen und politischen Wirklichkeit“ steht, das persönliche Erfahrungen in den Konflikten der Lebenswelt zu fassen und zu gestalten versucht. Genau das hat Ingeborg Drewitz in ihrem vielfältigen literarischen und publizistischen Werk zeitlebens getan.

Drewitz beschränkte sich jedoch nicht auf die Literatur, sie war auch politisch aktiv: für die Friedensbewegung, für Frauenrechte, für die Rechte Strafgefangener, zugunsten politisch Verfolgter, gegen Berufsverbote, gegen Neo-Nazismus und die Verjährung von Naziverbrechen, für die Rechte von v.a. türkischen Arbeitsmigrant*innen. 1958 beteiligte sie sich an der Gründung der Verwertungsgesellschaft Wort, sie gehörte der Gemeinschaft deutscher und österreichischer Künstlerinnen (GEDOK) an, dem PEN-Zentrum der Bundesrepublik Deutschland, sie war Gründungsmitglied des Verbands deutscher Schriftsteller (VS) und der „Neuen Gesellschaft für Literatur“ in Berlin – und überall war sie im Vorstand aktiv. Ihr Arbeitspensum war enorm.

Nach Ingeborg Drewitz ist die Stadtbibliothek in Berlin-Steglitz benannt, zwei Preise und eine Gesamtschule tragen ihren Namen. Ihr Werk, in dem sie die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen skeptisch, dennoch offen für Neues reflektiert, ist in den letzten Jahren wenig präsent. Der 100. Geburtstag der Autorin bietet einen guten Anlass für erneute Lektüre.

Der 1982 erschienene Tagebuchroman Eis auf der Elbe zeigt, wie sich literarisches Werk, Publizistik, politisches Engagement und autobiografische Züge bei Ingeborg Drewitz verschränken. Im Text, dessen Tagebuchform sie wählte, um, wie sie ihrem Verlagslektor Klaus Antes schreibt, „den brutal zerhackten Alltag festzuhalten“, werden gut vier Wochen – März/April 1981 – im Leben einer Rechtsanwältin dargestellt. Das berufliche und private Leben der verwitweten Mittfünfzigerin wird präzise geschildert, ihr Nachdenken über ihre Töchter und deren familiäre Verhältnisse, die Reflexion ihrer Ehe. Als Anwältin versucht sie, die Beweggründe ihrer Mandanten und Mandantinnen zu verstehen, was ihr beim Frauenmörder Rudi Windrock nur schlecht gelingt, sehr viel besser bei Feride, der illegal eingereisten Türkin, die mit Diebstählen versucht, den Nachzug ihrer Kinder zu ermöglichen. Die „Welt-Realität im Kristallisationszentrum Berlin“, wie Drewitz an Antes weiter schreibt, als sie ihm das Manuskript am 6. Dezember 1981 schickt, ist präsent durch die Augen der Protagonistin, die viele Züge von Drewitz selbst trägt. Berlin, das ist das Kaufhaus am Hermannplatz, in dem Feride als Reinigungskraft arbeitet und wertvolle Blusen stiehlt, um sie am Kurfürstendamm zu verkaufen, das ist die ruhige Straße, in der die Protagonistin lebt, ebenso wie das besetzte Haus in Kreuzberg, in das ihre jüngste Tochter einzieht. Das sind Demonstrationen, Polizeieinsätze, Besuche in der Strafanstalt, Fahrten entlang der Mauer, spielende türkische Kinder in Kreuzberg oder der verkommene Platz an der Havel, den sie im Gedenken an ihren verstorbenen Mann aufsucht. Die historischen Spuren von Nationalsozialismus, Krieg, der Teilung Deutschlands sind in der Stadt ebenso unübersehbar wie sie die Lebensläufe der Figuren prägen. Positive Perspektiven ermöglichen die Auf- und Ausbruchsversuche junger Menschen, die Impulse von Migrantinnen und Migranten für eine neue Form gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Eis auf der Elbe mag ein „Buch ohne Botschaft“ sein, wie Ingeborg Drewitz es behauptet, gewiss aber ist es ein Roman, der die Widersprüche seiner Zeit und seines Schauplatzes deutlich zeigt und gerade aus dem historischen Abstand von vierzig Jahren zur Lektüre, Re-Lektüre von Text und Stadt auffordert. Der Brief, in dem sich Ingeborg Drewitz über den Roman und anstehende Termine äußert, hastig getippt, dennoch nachdenklich und sehr persönlich auf den Adressaten bezogen, ermöglicht einen Blick in ihren Arbeitsalltag.

Das Ingeborg-Drewitz-Archiv, das neben Werkmanuskripten, einer umfangreichen Korrespondenz mit Schriftstellerkolleg*innen auch Zeitungsausschnitte und Materialsammlungen enthält, kann online recherchiert werden und steht der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung.

 

Ansprechpartnerin: Helga Neumann

Ingeborg Drewitz an Klaus Antes (Claassen Verlag),
6. Dezember 1981