1.6.2023, 09 Uhr
„Zurück an Seghers“ – eine Ergänzung zur Nachlassbibliothek der Schriftstellerin Anna Seghers
Das Akademiearchiv hat eine wertvolle Ergänzung zur Nachlassbibliothek von Anna Seghers erhalten, deren Todestag sich am 1. Juni 2023 zum 40. Mal jährt: 27 Bücher aus dem Besitz der Schriftstellerin, die bislang in der Familie aufbewahrt wurden. Das erscheint wenig angesichts des Gesamtumfangs der Bibliothek von fast 7.000 Bänden. Doch dieses Konvolut ist bedeutsam: Es enthält Bücher aus Seghers’ Kindheit und Jugend, aus ihrer Studienzeit, teils mit sehr persönlichen Widmungen und ihrem Exlibris.
Anna Seghers floh im Frühjahr 1933 aus Deutschland, und wer sich ins Exil flüchtet, nimmt nichts mit. Doch Seghers’ Bibliothek, die jetzt in ihrer original eingerichteten, als Museum zugänglichen Wohnung in den angestammten Regalen steht, enthält auch Bücher aus ihrer Kindheit, Jugend, aus ihrer Studienzeit und den Berliner Jahren seit 1925. Das ist dem glücklichen Umstand zu verdanken, dass Anna Seghers’ Eltern 1933 in der Lage waren, ihr die Bibliothek ins französische Exil nachzuschicken. Als Seghers mit ihrer Familie nach dem Einmarsch der deutschen Truppen im Sommer 1940 aus Paris fliehen musste, ließ sie die Bücher abermals zurück. Im Keller des Wohnhauses überdauerten sie die Kriegsjahre, bis sie 1945 von Anna Seghers’ Sohn Pierre Radvanyi, der als erster der Familie nach Europa zurückkehrte, wiedergefunden wurden.
Die Bücher, die das Akademiearchiv nun als Schenkung bereichern, repräsentieren Themen, die für die gesamte Seghers-Bibliothek zentrale Bedeutung haben. Aus Seghers’ Kindheit und Jugend gehört eine Ausgabe Griechische Heldensagen ebenso zum Konvolut wie Hans Christian Andersens Märchen, Adelbert von Chamissos Peter Schlemihl oder Der Graf von Monte Christo von Alexandre Dumas, allesamt mit dem Exlibris „Netty Reiling“. Ebenfalls mit Exlibris eine Auswahl aus Kierkegaards Schriften und Rainer Maria Rilkes Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. Aus dem Bereich religiöser Schriften ist eine Koran-Auswahl vertreten, dazu Martin Bubers Geschichten des Rabbi Nachman. Eine deutsche Übersetzung der Sprüche des Lao Tse mag aus Seghers’ Studienzeit stammen, und als Studentin der Sinologie trug sie nicht nur Anmerkungen ein, sondern auch chinesische Schriftzeichen. Zwei Bände mit Widmungen stechen hervor: Laszlo Radvanyi, genannt Rodi, schenkte seiner zukünftigen Frau zu Pfingsten 1924 eine hübsche Ausgabe mit Gedichten von John Milton, und sie widmete ihm eine Auswahl von Geschichten aus Rudyard Kiplings Jungle Book. Die Zeit der Rückkehr aus dem Exil ist durch ein Lehrbuch des Russischen vertreten. Aus den 1960er und 1970er Jahren enthält das Konvolut Publikationen von Günter Görlich, Hermann Kant und Edith Anderson, jeweils mit Widmungen für Anna Seghers.
Last but not least gehört dem Konvolut ein Kriminalroman an: Bereu, wenn du kannst. Das Taschenbuch der Bestsellerautorin Rae Foley (eigentlich Elinore Denniston, 1900 – 1978) erschien 1968 im Scherz Verlag Bern/München/Wien. Seghers versah den privaten Import aus der BRD mit einem Schutzumschlag aus Zeitungspapier, sie verwendete dafür das dritte Juniheft der Neuen Berliner Illustrierten 1969. Nicht nur Bertolt Brecht oder Christa Wolf lasen gern Kriminalromane, sondern auch Anna Seghers, die sich mit Das Kochbuch Ende der 1940er Jahre selbst auf diesem Feld versuchte. Weder Seghers selbst noch ihr Literaturagent Bronislaw Buber waren damals vom Ergebnis überzeugt, und so blieb die Kriminal-Novelle bis 1993 unveröffentlicht. Seghers’ Interesse am Genre beschränkte sich jedoch auch später nicht nur auf die eigene Lektüre. 1966 ereignete sich ein spektakulärer Mordfall, der in der DDR-Presse auch politisch ausgeschlachtet wurde: Die Hotelangestellte Maria Hagl aus Frankfurt am Main war an einer Autobahnauffahrt nahe Leipzig tot aufgefunden worden. Der Täter, der Geschäftsführer des Hotels, war mit ihr in die DDR gereist und hatte sie ermordet, um mit ihrem Pass seine neue Geliebte in die BRD zu schmuggeln. Seghers legte zu diesem Fall eine umfangreiche Materialsammlung an, zu der u. a. auch ihre bundesdeutsche Lektorin Elisabeth Borchers mit Zeitungsartikeln und Informationen beitrug. Literarisch verarbeitet hat Seghers diese Geschichte dann doch nicht.
Anna Seghers stand der sogenannten ‚Trivialliteratur‘ nicht generell ablehnend gegenüber, denn, so erklärt sie auf die Frage ihres Freundes Vladimir Steshenskij die Faszination von Trivialromanen, es seien darin durchaus „Passagen enthalten, Lebensgebiete betreffend, die sonst selten zur Sprache“ kommen. Was es nun genau am Kriminalroman von Rae Foley war, das Seghers fesselte, wissen wir nicht. Sie verlieh wohl generell nicht gerne ihre Bücher, und dieses war ihr immerhin wichtig genug für eine Mahnung auf der Titelseite: „zurück an Seghers“.
Online-Recherche in der Archivdatenbank: Anna-Seghers-Archiv
Ansprechpartnerin: Helga Neumann