15.6.2012, 10 Uhr
Peter-Schneider-Archiv
Dokumentation der Archiv-Eröffnung am 12. Juni 2012
Begrüßung des Archivdirektors Wolfgang Trautwein zur Eröffnung des Peter- Schneider-Archivs:
Lieber Peter Schneider, meine Damen und Herren,
wir eröffnen heute ein Archiv, das – literarisch und zeithistorisch gleichermaßen relevant – Wegmarken, Themen und Sichtweisen zur Sprache bringt, die „unsereinen im Westen“ seit Ende der 1960er Jahre bewegt haben. Es ist zugleich ein Archiv, das aus der Perspektive Westberlins und der alten Bundesrepublik schon in frühen Jahren die DDR und ihre Menschenprägung, das Ost-West-Verhältnis, aber auch transatlantische Themen zur Sprache bringt.
Für meine Generation der leicht verspäteten 1968er war die Erzählung „Lenz“ aus dem Jahr 1973 so etwas wie ein Erweckungserlebnis. Peter Schneiders an Büchner geschulter Blick widerstand der omnipräsenten ideologischen Vereinnahmung von Wirklichkeit, ließ diese fremd erscheinen und entwarf dennoch in den Italien-Kapiteln gegen Ende die Utopie eines persönlich und politisch erfüllten Lebens. 35 Jahre später blickte der Autor auf die gleiche Zeit in einer ziemlich schonungslosen Selbstanalyse zurück. Die Grundlage hierfür bildete ein wichtiger Bereich seines Archivs, 23 Hefte mit Tagebuch-Aufzeichnungen. Eine zentrale These des 2008 erschienen Buchs „Rebellion und Wahn. Mein 68“. entstand aus Sprachkritik. An seinen eigenen Aufzeichnungen zeigte Schneider, wie eine entpersönlichende Politsprache die Macht ergriffen, die fröhlich-anarchistische Anfangsphase der Studentenbewegung beiseite geschoben und selbstreflexiv den Wahn abgeleitet hatte, einen gerechten Kampf gegen alles sogenannt Institutionalisierte führen zu dürfen bzw. zu müssen.
Mit der Brieffolge von 19 Schreiben des Ex-RAF-Mitglieds Peter-Jürgen Boock beinhaltet das Archiv auch weiteres Material für die Auseinandersetzung mit dem Linksterrorismus. Und es enthält Schneiders persönliche Unterlagen über die am eigenen Leib erfahrene Gegenreaktion des Staats, die Berufsverbote im öffentlichen Dienst. Daraus war 1975 sein Buch „... schon bist du ein Verfassungsfeind - Das unerwartete Anschwellen der Personalakte des Lehrers Kleff“ entstanden. Auch hier schaut dem Archivbenutzer die Zeitgeschichte der Bundesrepublik über die Schulter. Das auch, neben den internationalen Künstlerkontakten, in der Korrespondenz mit Briefen von F. C. Delius, Joachim Fest, André Glucksmann, Reinhard Hauff, Hans Werner Henze, Reinhard Lettau, Arthur Miller, Renzo Piano, Bernhard Schlink, Volker Schlöndorff, Margarethe von Trotta oder Gao Xingjian.
Mit Beginn der 1980er Jahre war das deutsch-deutsche Thema ins Zentrum seiner literarischen Arbeit gerückt, vom „Mauerspringer“ 1982, der sich der Berliner Teilung als einer bizarren, aber dauerhaften Gegebenheit annäherte, bis zum Roman „Paarungen“ und zum Filmszenarium „Das Versprechen“ in den neunziger Jahren. Die literarische Tradition der Grenzerfahrung im geteilten Berlin, wie sie Uwe Johnson gestiftet hatte, führte Schneider aus westdeutscher Sicht mit seinem persönlichen kritischen und zugleich humorvollen Blick auf beide Systeme weiter.
Wie inkompatibel deutsches Fühlen und Denken in Ost und West war, machen neben der Geschichte des Mauerspringers Kabe signifikante Begebenheiten aus Freundschaften und Liebesbeziehungen anschaulich. Von den fünf seiner ins Englische übertragenen Bücher fand „Der Mauerspringer“ die größte Resonanz; er hat es bis in die illustre Reihe der „Penguin Modern
Classics“ gebracht. Der Blick in andere Weltregionen, besonders die USA, wo Schneider seit 1985 immer wieder Gastdozenturen wahrnimmt, weiten das Panorama seiner Zeitgenossenschaft aus. Das Selbstverständnis im veränderten Europa ist ein wesentliches Thema, zu dem er seine Sicht in die „ZEIT“, den „Spiegel“ und die Tagespresse hineinträgt. Zur deutschen Geschichte zwischen 1933 und 45 tat er das u. a. mit dem ZEIT-Artikel „Im Todeskreis der Schuld“ zur Historikerdebatte 1987, auf den sich – ebenfalls im Archiv dokumentiert – Bundeskanzler Helmut Kohl veranlasst sah, öffentlich zu reagieren.
Eine glückliche Ergänzung unserer Akademiebestände zum Komplex des Jüdischen Kulturbund in Deutschland 1933 – 41 bilden die Dokumente zum 2001 erschienenen Buch über den Dirigenten Konrad Latte „Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen - Wie ein jüdischer Musiker die Nazi-Jahre überlebte“. Sie umfassen Recherchematerial, Tonaufnahmen der Gespräche sowie den Briefwechsel mit Latte und seiner Frau, die intensiven Anteil an der Entstehung des Buchs nahmen.
Noch viel mehr ist im Peter Schneider-Archiv zu entdecken, etwa die unbekannte Seite des Autors als Lyriker, aber auch die Arbeit für das Medium Film, die Drehbücher zu Reinhard Hauffs „Messer im Kopf“ und „Der Mann auf der Mauer“ oder Margarethe von Trottas „Das Versprechen“.
Das Archiv lädt also zur Entdeckungsreise ein. Seine ca. 19.000 Blatt, die wir seit 2010 übernahmen, hat meine Kollegin Martina Hanf aufs Beste geordnet und verzeichnet. Dank ihrer Arbeit können wir heute das Peter Schneider-Archiv eröffnen. Der Autor selbst wird uns jetzt einen Vorgeschmack geben. Seiner Lesung gab er den Titel „The best and the worst der letzten 50 Jahre“. So mutig, auch „the worst“ vorzustellen, war bis dato kein anderer bei einer Archiveröffnung. Wir sind gespannt.
Dr. Wolfgang Trautwein, Berlin 2012