25.11.2016, 18 Uhr

Leben und Schreiben: Zum 30. Todestag von Ingeborg Drewitz

Ingeborg Drewitz /
Typoskript Leben und Schreiben, etwa 1974, Seite 1

Am 26. November 1986 starb Ingeborg Drewitz im Alter von 63 Jahren an den Folgen einer Krebserkrankung. Das Ingeborg-Drewitz-Archiv dokumentiert Leben und Werk der für Kunst und Gesellschaft engagierten Autorin. Es bietet darüber hinaus Einblicke in die politisch eher links orientierte Literatur- und Kulturszene der 1970er und frühen 1980er Jahre Westberlins und der Bundesrepublik Deutschland. Ingeborg Drewitz begann schon früh zu schreiben. Auf über 30 Regalmetern sind die ersten Versuche der Schülerin Ingeborg Neubert aus Berlin-Moabit ebenso überliefert wie Briefe, die sie im Herbst 1986, todkrank, noch las und mit Notizen versah – und die Fülle von Manuskripten, Briefen, Materialsammlungen, die dazwischen liegen.

Das unbeschriebene Papier, das unbespielte Band, der unbelichtete Film. Das Zögern der Hand, der Atemhauch vom Mikrofon übertragen, im Sucher ein Stück Mörtelwand, verschwommen oder grobkörnig je nach Einstellung. Bis das erste Wort geschrieben, der erste Satz gesprochen ist, bis die Wand im Sucher zum Bild wird. Bis der Anfang gemacht ist und Machen wichtiger wird als Leben (machen, sich einer Sache, einer Erfahrung, einer Anschauung bemächtigen, Macht über sie gewinnen).

So beginnt Ingeborg Drewitz etwa 1974 den Essay Leben und Schreiben, der ihre Haltung deutlich macht: nüchtern, nachdenklich – und zupackend.

Anfänge
Auch wenn einige Familienangehörige der NSDAP kritisch gegenüberstanden: Ihre frühen Briefe und Texte sind geprägt durch die nationalsozialistische Gesellschaft, in der Ingeborg Neubert aufwuchs. Sie studierte ab 1942 an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität Germanistik, Geschichte und Philosophie und schloss das Studium im April 1945 mit einer Promotion über Erwin Guido Kolbenheyer ab, die sich im Rahmen der nationalsozialistisch geprägten Literaturwissenschaft hielt, wie ihr Doktorvater Franz Koch sie propagierte. Den Zwiespalt der Anpassung formulierte sie 1978 in dem Roman Gestern war Heute, der eine Berliner Familiengeschichte über mehrere Generationen hinweg entwickelt – die Protagonistin Gabriele ist wie Ingeborg Drewitz 1923 geboren: Nicht dazugehören und doch dazugehören wollen. Dazugehören und nicht dazugehören wollen."

Berlin nach 1945 – keine freundliche, aber vielleicht die beste Umgebung für eine junge Autorin auf der Suche nach ihrem Lebensentwurf. 1946 heiratete Ingeborg Neubert ihren Jugendfreund Bernhard Drewitz, 1948 wird die erste von drei Töchtern geboren, eine vierte Tochter stirbt kurz nach der Geburt. Und Ingeborg Drewitz schreibt: Erzählungen, Dramen, Hörspiele, die sie Verlagen und Sendern anbietet, ohne sich von der oft harten Kritik der Redakteure und Lektoren entmutigen zu lassen. Die Briefwechsel im Archiv belegen, wie gründlich die eingesandten Texte gelesen, wie intensiv sie diskutiert wurden. Moralische Fragen bewegen Drewitz, und 1951 verfasst sie das erste Drama deutscher Sprache, das sich mit der Deportation und Ermordung Menschen jüdischer Familienherkunft in Konzentrationslagern befasst: Alle Tore waren bewacht wird 1953 öffentlich gelesen, 1955 inszeniert.

Engagiert schreiben
Drewitz wird immer mehr zur politischen Autorin und Akteurin. 1958 beteiligte sie sich an der Gründung der Verwertungsgesellschaft Wort. 1961 bis 1964 war sie Vorsitzende der Gemeinschaft deutscher und österreichischer Künstlerinnen (GEDOK). Seit 1964 gehörte sie dem PEN-Zentrum der Bundesrepublik Deutschland an, ab 1966 dessen Präsidium. Sie war Gründungsmitglied des Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) und der Neuen Gesellschaft für Literatur“ in Berlin – die Liste ließe sich fortsetzen. Der politische Einsatz ist enorm: Kontakte in die DDR, in die ČSSR und UdSSR stehen neben der Arbeit im Irankomitee, Initiativen zur Lage der Menschenrechte in Portugal, Argentinien, Chile u. a. Sie versuchte die Situation von Häftlingen in der BRD zu verbessern, setzte sich gegen Berufsverbote ein, gegen Neo-Nazismus und die Verjährung von Naziverbrechen, für Frauenemanzipation, für die Friedensbewegung, für die Rechte von v. a. türkischen Arbeitsmigranten. Sie war Jurorin im dritten Russell-Tribunal 1978/79 zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland. Drewitz förderte die literarischen Arbeiten Inhaftierter. Der 1988 begründete Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene trägt darum ihren Namen. Seit Mitte der 1960er Jahre bemühte sie sich um AutorInnen, die nach 1933 emigrieren mussten, um Exilliteratur. Teils umfangreiche Korrespondenzen mit Nelly Sachs, Mascha Kaléko, Ilse Blumenthal-Weiss, Charlotte Beradt oder Hans Sahl belegen dieses langjährige Engagement, aus dem Freundschaften erwuchsen.

Häufig stehen Frauen im Zentrum ihrer Werke, sei es in der 1969 erschienenen Biographie der Bettina von Arnim, sei es in fiktionalen Texten, die sich realistisch, zuweilen naturalistisch, mit den Zwängen und Widersprüchen des Lebens von Frauen auseinandersetzen, oft mit autobiographischen Bezügen, wie etwa Oktoberlicht (1969), Gestern war Heute (1978), Eis auf der Elbe (1982). Drewitz bleibt immer einem traditionellen Blick auf die Familie und einem biologisch determinierten Geschlechterbild verbunden. Auch wenn sie für Gestern war Heute die Zuschreibung Frauenroman“ abwies, obgleich eine Frau im Mittelpunkt stehe, legen Zuschriften von Leserinnen nahe, dass Drewitz' Publikum überwiegend weiblich war.

Ingeborg Drewitz sah Literatur im Dienst gesellschaftlichen Fortschritts, formale Experimente waren ihre Sache nicht. Ihre Texte beziehen Position, laden zur Diskussion ein. Ingeborg Drewitz' Tätigkeit als Rezensentin sei hier nur am Rande erwähnt, ebenso, dass sie auf zahlreichen Lesereisen in engen Kontakt mit ihrem Publikum trat und eine umfangreiche Korrespondenz pflegte, mit AutorInnen, u. a. Heinrich Böll, Hilde Domin, Günter Grass, Lew Kopelew, Leonie Ossowski, Günther Weisenborn, mit LeserInnen, Institutionen. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. 1973 das Bundesverdienstkreuz, 1980 die Carl-von-Ossietzky-Medaille, 1983 den Evangelischen Buchpreis, 1985 den Hermann-Sinsheimer-Preis. Zwei Preise sind nach ihr benannt – neben dem bereits erwähnten Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene der seit 1987 vergebene Ingeborg-Drewitz-Preis“ für Engagement für die Menschenwürde.

1974 stellte Drewitz fest: Engagiert schreiben war kein Programm sondern Notwendigkeit. Die Menschen, mit denen ich lebte und lebe, der Ort, die Jahrzehnte haben mich Erfahrungsschüben ausgesetzt, die mir Ideologien ebenso fragwürdig gemacht haben wie Dogmen.“

Im Archiv ist Ingeborg Drewitz' Lebensweg ebenso nachzuvollziehen wie das, was sie gemacht“ hat: ihr literarisches Werk, das viele unveröffentlichte Text umfasst, die politische Arbeit, die in der Rückschau auch immer ein Bild der Gesellschaft bietet, von der Ingeborg Drewitz geprägt war und die sie mit gestaltete.

Informationen zum Archiv von Ingeborg Drewitz erhalten Sie in der Archivdatenbank oder im Literaturarchiv der Akademie: Helga Neumann, Tel. 030-20057-3229


Zitat aus Leben und Schreiben mit freundlicher Genehmigung durch Jutta Hoppe, Berlin.