2.6.2017, 13 Uhr

Alfred-Döblin-Preis 2017: Vom Neben- und Ineinander von Geschichte und Geschichten

Zur Preisverleihung an María Cecilia Barbetta

Am 21. Mai 2017 erhielt die Schriftstellerin María Cecilia Barbetta den Alfred-Döblin-Preis. Hier können Sie die Begrüßungsrede von Jörg Feßmann, Sekretär der Sektion Literatur, nachlesen.

 

„Liebe María Cecilia Barbetta, herzlichen Glückwunsch zum Alfred-Döblin-Preis. Cecilia Barbetta erhält die Auszeichnung für das Manuskript mit dem Titel Bloody Mary. Die anderen Finalisten waren Alida Bremer, Stephan Groetzner, Anja Kampmann, Sebastian Polmans und Fridolin Schley, die ich auch alle herzlichst willkommen heißen darf.

Ebenso herzlich darf ich die Jury, bestehend aus Mara Delius, Wiebke Porombka und Tobias Lehmkuhl, begrüßen und ihr danken. Danken für die großartige Wahl, aber auch für die gewaltige Arbeit, die sie zu bewältigen hatte bei über 600 Einsendungen mit mindestens 50 Seiten Text, Jurysitzungen kamen auch noch hinzu, in denen sich die Juroren auf 15 und schließlich auf die 6 Finalisten einigen mussten, die dann gestern im Literarischen Colloquium am Wannsee mit – und ein wenig auch gegeneinander antraten.

Auch wenn es gestern im Vergleich zu den Tagen davor zuweilen ein wenig kalt am Wannsee war, die Stimmung und Gastlichkeit im LCB war wie immer großartig. Dafür und für den großen Berg an Arbeit, der bei so vielen Bewerbungen abzutragen ist, sei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des LCB, besonders Thorsten Dönges und Florian Höllerer, der herzlichste Dank ausgesprochen. Wie gut, dass Günter Grass bei der Einrichtung der Stiftung die Akademie und das LCB als Kooperationspartner für den Preis ausgewählt hatte. 1978, zum hundertsten Geburtstag von Alfred Döblin, hatte Grass diesen Preis für unveröffentlichte Manuskripte epischen Charakters ins Leben gerufen, 1979 wurde er zum ersten Mal vergeben. Alfred Döblin war wohl der einzige Autor, dem Grass so etwas wie eine Vorbildfunktion für sein eigenes Schreiben zugestand. Über meinen Lehrer Döblin hieß die Rede, die er 1967 in der Akademie der Künste zum zehnten Todestag Döblins gehalten hat und die nicht unwesentlich damals zur Renaissance des Döblinschen Werks beigetragen hat.

Wesentlich für die Ausrichtung des Preises war für Grass die prägende Erfahrung der Gruppe 47 mit dem Lesen und Diskutieren unter Kollegen, mit Kritikern und Lektoren. Und dazu gehört, dass nicht ein fertiges Buch prämiert wird, sondern ein in Arbeit befindliches Manuskript. Heute wird der Alfred-Döblin-Preis zum 21. Mal vergeben. Und wenn man sich nur einige der letzten Preisträger vergegenwärtigt, Natascha Wodin, Saša Stanišić oder Eugen Ruge, dann merkt man, welche Bedeutung der gewonnene finanzielle Spielraum für die Fertigstellung eines Manuskripts, aber auch die Referenz des Preises selbst für das Weiterkommen und manchmal auch Ankommen hat.

Günter Grass hätte sicher gestern wieder seine Freude an den Lesungen und Diskussionen gehabt, mit Neugier hätte er gelauscht, auf welchen ästhetischen Pfaden sich die nächsten Generationen von Autorinnen und Autoren bewegen, seine präzisen Nachfragen, Einschätzungen fehlten, auch seine  Einlassungen, mit denen er regelmäßig, meist am späten Nachmittag, eine allgemeine Literaturdebatte provozierte. So weit kamen wir gestern nicht, das lag aber vor allem an der hohen Qualität und Unterschiedlichkeit der Texte, die keine Nachmittagsmüdigkeit oder gar einen Überdruss entstehen ließen. Es hatte aber auch mit der 8-köpfigen Publikumsjury zu tun, die gut vorbereitet, höchst engagiert und temperamentvoll mitdiskutierte. Dies war etwas Neues, ein erster Versuch, den wir sicher so oder ähnlich wiederholen werden.

Die Auszüge aus entstehenden Romanmanuskripten, die wir im LCB gehört haben, lassen einiges für die Zukunft erwarten, nicht nur der Text von María Cecilia Barbetta, auch die anderen fünf Texte wussten zu beeindrucken. Bemerkenswert war die thematische Breite und die unterschiedlichsten ästhetischen Ansätze. Angefangen von Fridolin Schleys ernstem Spiel mit Literatur und Wahrheit, mit Wirklichkeit und Fiktion anhand eines tatsächlichen Kriminalfalls über Stephan Groetzners mit großer Spielfreude und sprachlicher Genauigkeit gestaltetem Entwurf einer Weltmaschine mit dem vielsagenden Titel Das wird nichts und schließlich zuletzt am Vormittag ein Auszug aus einer großen Romantrilogie von Alida Bremer. In Drehort Adria geht es um die Korrelation von Film, von B-Movies und der harten Weltgeschichte im Jahre 1936.

Nach der Mittagszeit – eigentlich dem traditionell ungünstigsten Lesezeitpunkt – dann das Ineinander von Geschichten und der großen Geschichte im Argentinien Mitte der 70er Jahre von María Cecilia Barbetta, gefolgt von Sebastian Polmans, der uns ein paar Jahrhunderte zurückversetzte mit einer geradezu meditativ erzählten Geschichte aus der Perspektive der 8-jährigen Tochter von Jesus und Maria Magdalena – dieser Text polarisierte am meisten und löste die einzige richtig kontroverse Debatte aus. Den Abschluss bildete Anja Kampmanns hochpoetischer Text Wie hoch die Wasser steigen über den Ölbohrarbeiter Waclaw, der nach seinem nach einem Unwetter vermissten Freund Matyás sucht und in die Einsamkeit gestoßen wird. 

Das war ein beeindruckendes Themen- und Stimmenspektrum, wie man es sich für einen Wettbewerb wie den Alfred-Döblin-Preis nur wünschen kann. Günter Grass wollte mit der Namensgebung ‚Alfred-Döblin-Preis‘ nicht nur an den Autor erinnern, der Ende der 20er Jahre mit allergrößtem auch kulturpolitischem Engagement und Streitlust die Akademie gleichsam auf den Kopf gestellt hat, bis er im März 1933 mehr oder weniger zum Austritt gezwungen wurde und dann ins Exil nach Frankreich und in die USA gehen musste. (Hier am Pariser Platz hielt er auch seine wichtigsten literaturtheoretischen Vorträge wie Schriftstellerei und Dichtung oder Kunst ist nicht frei, sondern wirksam. Ars militans.)

Grass wollte auch, ja vor allem, an den Autor Alfred Döblin erinnern. Nicht nur erinnern, nein, er wollte die jüngeren Autorinnen und Autoren neugierig auf einen Autor machen, dessen Themenspektrum und erzählerische Vielfalt auch heute noch beispielgebend sein kann. Deshalb gehört es zum Döblin-Preis, ist es im Sinne des Stifters, ja ist es sogar als Aufforderung an alle Teilnehmer zu verstehen, sich mit Alfred Döblin, dem großen Klassiker und Epiker der deutschsprachigen Moderne, zu befassen. Manchmal, nicht immer, folgt daraus eine Döblin-Rede des vorigen Preisträgers. (Liebe Cecilia Barbetta, die nächste Preisverleihung ist in zwei Jahren.)

Heute werden wir Texte von Döblin selbst hören. Zum Abschluss der Preisverleihung lesen die Akademie- und Kuratoriumsmitglieder Katja Lange-Müller, die selbst im Jahre 1995 den Döblin-Preis erhalten hat, und Uwe Timm Auszüge aus zwei großen Romanen Döblins lesen. Katja Lange-Müller hat sich die berühmte Schlachthofszene aus dem Berlin Alexanderplatz ausgesucht.

Auch wenn es die meisten Döblinianer immer ein wenig ärgert, dass der Name Döblin mit dem Berlin Alexanderplatz gleichgesetzt wird, mit diesem 1929 erschienen Werk, ist ihm einfach etwas ganz außerordentliches, große Literatur gelungen, eine einmalige Synthese: die Verbindung einer modernen Großstadt mit der Existenz eines einzelnen Menschen, des Franz Biberkopf, der sich in Berlin einzurichten und zu behaupten versucht. Jeder von Ihnen wird den Roman kennen, er steht nach wie vor für einen, vielleicht den bedeutsamsten Großstadtroman der Weltliteratur. Und: Es ist immer wieder faszinierend, ihn in die Hand zu nehmen.

Doch der Ruhm des Berlin Alexanderplatz verstellt leider auch den Blick auf das vielleicht vielfältigste Werk, das es in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts gibt. Wie hat es Wilfried F. Schoeller einmal treffend formuliert: ‚Sein Verhängnis: Er hat zu viele zu gute Bücher geschrieben.‘

Wie kaum ein anderer Autor hat Döblin eine Vielzahl von Themen bearbeitet, vom China des 18. Jahrhunderts über das Dämonische der modernen Technik, über Wallenstein, die Enteisung Grönlands, über die Indios und die Jesuiten im Amazonas, die Novemberrevolution von 1918 bis zur Heimkehrer-Geschichte eines jungen, tief traumatisierten Zweiten-Weltkriegs-Invaliden, der die ganze Wahrheit wissen will.

Und das Besondere und in ästhetischer Hinsicht heute noch so Interessante ist, dass Döblin für jedes seiner Themen nach dem entsprechenden Sprachstil gesucht hat. Sein Credo war: Der Stil muss ‚aus dem Stoff kommen‘. Ob Sie die futuristisch geprägten Wortkaskaden aus dem chinesischen Roman Die drei Sprünge des Wang-lun nehmen, oder die barocken, teils sehr langen Sätze aus dem Wallenstein, oder die genaue, sparsame, pointierte Notierung der Abläufe in der Erzählung Die Ermordung einer Butterblume, dann sehen Sie Döblins erzählerische Vielfalt. Dieses immer wieder Neu-Ansetzen ist das spezifisch Döblinsche.

Uwe Timm wird einen kleinen Auszug aus Döblins großem, über 2000-seitigem Geschichtsepos November 1918 lesen, das sich in allen Schattierungen mit der deutschen Revolution von 1918/19 beschäftigt. Geschrieben wurden die 4 Bände im Exil in den Jahren 1937-43, erschienen sind sie 1950. Mit einer Fülle von Handlungsfäden versucht Döblin ein komplexes Bild der Revolution zu entwerfen, das Spezifikum des November 1918 ist das Neben- und Ineinander von Geschichte und einzelnen Geschichten, von historischen Figuren wie Ebert, Scheidemann, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht und rein fiktiven Figuren.

Und damit kann ich, meine verehrten Damen und Herren, wunderbar auf die heutige Preisträgerin überleiten. Denn das scheint auch María Cecilia Barbetta Programm zu sein. Wir haben es in Bloody Mary, Sie werden es gleich hören, auch mit der großen Geschichte und mit den Geschichten vieler fiktiver Personen, kleiner Leute, zu tun.“