7.5.2018, 16 Uhr
„Holocaust als Kultur": Ein Rückblick auf die Imre-Kertész-Konferenz
Vom 12. bis 14. April 2018 fand in der Akademie der Künste das erste Imre-Kertész-Symposium statt, bei dem sich Schriftsteller, Literaturwissenschaftler, Kritiker, Übersetzer und Wegbegleiter mit Imre Kertész, seinem Werk und seinen Wahlverwandtschaften befassten.
Bilder der Veranstaltungen finden Sie ab sofort auf der Website der Sektion Literatur ebenso wie eine Audioaufzeichnung des Eröffnungsvortrags des ungarischen Essayisten László F. Földényi mit dem Titel „Das heimliche Leben von Imre Kertész".
Die Begrüßungsrede des Sekretärs der Sektion, Jörg Feßmann, zur Lesung aus Kertész' unveröffentlichen Arbeitstagebüchern zur Konzeption und Entstehung von Roman eines Schicksallosen am 13. April 2018 können Sie im Folgenden nachlesen:
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich darf Sie ganz herzlich im Namen der Akademie der Künste und als Sekretär der Sektion Literatur zu diesem besonderen Abend im Rahmen unseres Imre-Kertész-Symposiums begrüßen.
„In Warschau", schreibt Imre Kertész in seinem Tagebuch Letzte Einkehr am 8. März 2002, „in Warschau, aber auch sonst, bei anderen Gelegenheiten, gibt man mir ständig zu verstehen, dass ich eigentlich der Autor des Roman eines Schicksallosen bin und man meine übrigen Arbeiten gewissermaßen für überflüssig hält. Soll ich dieses Urteil akzeptieren? Ich akzeptiere es nicht."
Kurz danach, im August 2002, klagt er: „Nur eines meiner Bücher wird gelesen, der Roman eines Schicksallosen." Das war kurz bevor ihm vor allem für diesen Roman der Nobelpreis im Oktober zugesprochen wurde. Danach sollte es nicht besser werden. Von seiner „Glückskatastrophe" hat er mehrfach geschrieben. Christina Viragh hat heute Vormittag im Symposium davon gesprochen, wie der Roman eines Schicksallosen vor allem seit dem Nobelpreis zu „seinem Schicksal" wurde, oder noch stärker: „dass bei ihm Auschwitz eigentlich erst mit dem Nobelpreis wirklich zugeschlagen hat." Man kennt es aus der Literaturgeschichte, dass solch ein Erfolg auch zur Belastung werden kann, vor allem in Zeiten, in denen man den Anfängen oder mit dem Gelingen eines neuen Buches kämpft.
Aber es ist natürlich auch ein Klagen auf höchstem Niveau. Man hatte schließlich ein außergewöhnliches, vielleicht sogar ein Jahrhundertwerk geschaffen. Und mit solch einem Werk haben wir es beim Roman eines Schicksallosen zu tun. Es ist das „abgründigste" Werk innerhalb der Shoah-Literatur und nimmt dort einen einzigartigen Rang ein. Und es ist zudem gleichsam das Zentrum im weiteren Schreiben von Kertész – wenn man an seine Tagebücher denkt, an die Essays u.a. Der Holocaust als Kultur, Die Unvergänglichkeit der Lager, Wem gehört Auschwitz, alle versammelt in dem suhrkamp-Band „Die exilierte Sprache", oder an die teils aphoristisch geprägten Reflexionen aus dem Galeerentagebuch und die den Roman eines Schicksallosen in gewisser Weise ergänzenden Romane Kaddisch für ein nicht geborenes Kind und Fiasko – nicht umsonst spricht man heute oft von einer „Trilogie" oder gar einer „Tetralogie der Schicksallosigkeit".
Katalin Madácsi-Laube hat heute Vormittag im Symposium eindrucksvoll die verschiedenen Etappen, die Genese der Entstehung des Roman eines Schicksallosen aus dem Nachlass von Imre Kertész aufgezeigt, die sich schon aus der jeweiligen Titelgebung zeigen: Zuerst sollte der Roman „Ferien im Lager", dann „Muselmann" und schließlich „Roman einer Schicksallosigkeit" heißen.
Auch László F. Földényi hat uns gestern Abend in seinem Eröffnungsvortrag noch einmal dargelegt, wie Kertész Ende der 50er Jahre das Thema für den Roman entdeckte und mit der Niederschrift „gleichsam als ‚Selbstbestrafung' für seine vergangenen Mißerfolge" begann. Er hat auch noch einmal deutlich gemacht, wie der Roman nach 13-jähriger Arbeit zunächst abgelehnt wurde, dann nach dem Erscheinen 1975 in Ungarn so gut wie keine Resonanz erfuhr und dort erst Mitte der 80er Jahre bei Erscheinen der 2. Auflage ein wenig Aufmerksamkeit erregte. Das war eine Erfahrung, die ihn noch lange verfolgen sollte. In Fiasko hatte er diese Enttäuschung verarbeitet, die Tagebücher sind auch voll davon, lassen sie mich nur eine Passage von 1998 zitieren: „Zusammengefaßt: Solange also Ungarn vom Holocaust, im niedersten wie im höchsten Sinn des Wortes, nichts ‚weiß' und wissen will, solange kann ich, der Schriftsteller des Holocaust, kein ungarischer Schriftsteller sein... Ich habe hier nichts zu suchen. Ich verstehe sie nicht, sie verstehen mich nicht."
Doch auch im Westen Europas wurde er nicht sofort verstanden bzw. zunächst kaum wahrgenommen. Die erste Übersetzung mit dem Titel Mensch ohne Schicksal ging in der Wendezeit unter, erst die zweite Übersetzung von Christina Viragh von 1996 wurde dann zum literarischen Ereignis, ganz besonders in Deutschland.
Wir kennen also zahlreiche Äußerungen von Kertész aus der Zeit nach Erscheinen des Romans, ein paar wenige aus dem Galeerentagebuch ab 1965 während der Arbeit, aber bisher nichts aus der Anfangszeit, als er sich nach dem Scheitern von Ich, der Henker entschloss, seine eigene Mythologie, die Geschichte seiner Deportation zu schreiben, und er erste Überlegungen zur Konzeption des Romans anstellte. Das einzige, was bisher ans Licht der Öffentlichkeit kam, waren einige Zitatfragmente, die Irene Heidelberger-Leonard damals noch in Abstimmung mit Imre Kertész in ihrer bei Wallstein 2015 erschienenen Biografie veröffentlichte.
Ich freue mich nun sehr, dass wir Ihnen heute Abend zum ersten Mal Auszüge aus diesem eindrucksvollen Konvolut vorstellen können. Die Texte stammen nicht aus den persönlichen, gebundenen Tagebüchern, es sind Arbeitstagebücher. Reine Arbeitstagebücher gibt es überhaupt nur aus den Jahren 1959-1962. Kertész hatte die Texte zusammen mit anderen fragmentarischen Texten in einer Mappe mit der Aufschrift „Entwürfe" dem Archiv übergeben. Es sind lose Blätter, alle handschriftlich verfasst. Die Texte geben – sie werden das gleich hören – einen großartigen Einblick, welches Ringen zu Beginn nötig war, um die richtige Form, die richtige Erzählstimme zu finden, wie er immer wieder Zweifel bekam, alles verwarf und dann doch wieder neu ansetzte.
Ich darf ganz herzlich Pál Kelemen für die Übersetzung und der Kertész-Lektorin Ingrid Krüger für die Auswahl, Überarbeitung und die gute Zusammenarbeit danken. Irene Heidelberger-Leonard danke ich ganz herzlich, dass sie mit dem Einverständnis von Kertész diese Blätter im Archiv entdeckt und uns mit den Zitaten in ihrer Kertész-Biografie höchst neugierig gemacht hat.
Und nun freue ich mich, dass ich Ihnen Ulrich Matthes ankündigen darf. Ihn muss ich hier in Berlin und in diesem Haus wirklich nicht vorstellen, außer dass er natürlich seit langem Mitglied der Akademie ist, bis vor kurzem Direktor der Sektion Darstellende Kunst war und wir, die Literatur, ihn immer wieder gerne für Lesungen engagieren, heute Abend aber ganz besonders. Denn jeder, der die von Ulrich Matthes 1999 eingelesene Hörbuchfassung des Roman eines Schicksallosen gehört hat, wird mir beipflichten: einen Geeigneteren kann es nicht geben. Lieber Ulrich Matthes, Sie haben das Wort!
Jörg Feßmann, 13. April 2018