11.6.2019, 11 Uhr
„drum schieß mit Deinem Püstericht ...“:
Ein Kinderbuch aus der Bibliothek
von Anna Seghers
Wie lernte Anna Seghers schreiben? „drum schieß mit / deinem Püstericht / auf keine alten / Leute nicht“ – so übte sich die etwa sechsjährige Netty Reiling, lange bevor sie als Anna Seghers (1900–1983) berühmt wurde. Anregung und Platz bot eine Sammelausgabe dreier populärer Bildergeschichten von Wilhelm Busch (1832–1908).
Seghers' Kinderbuch war offenbar über längere Zeit in Gebrauch – Eintragungen mit Blei- oder Buntstift finden sich auf fast allen Leerseiten, manche noch unbeholfen, andere schon recht geschickt. Teils mit Bezug zu Buschs Bildern oder Texten, wie auf der abgebildeten Seite, teils ohne. Es gibt u. a. Strichmännchen mit Mondgesichtern, mehrmals ein liebevoll möbliertes Haus (oder Puppenhaus) im Längsschnitt, Textfragmente aus Buschs Geschichten sowie den Namenszug der Besitzerin Netty Reiling. Der Band ist abgegriffen. Er wurde viel benutzt, vielleicht auch später von Anna Seghers' Kindern. Auf einigen Seiten finden sich auch kleine Zeichnungen Erwachsener, Zeugnis gemeinsamer Lektüre.
Viele solcher Bücher wurden weggeworfen, wenn sie unansehnlich und die Kinder groß waren. Netty Reiling hob den Band auf, nahm ihn als verheiratete Netty Radvanyi / Anna Seghers mit nach Berlin, als sie Mitte der 1920er Jahre aus ihrer Geburtsstadt Mainz dorthin zog. Als Kommunistin und von jüdischer Herkunft musste sie sofort nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten fliehen. Ihre wohlhabenden Eltern veranlassten, dass ihr die Bibliothek ins französische Exil nachgeschickt wurde – nur für wenige Emigrantinnen und Emigranten war das möglich.
Bei der Flucht aus Paris nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht war alles, was nicht in einen Rucksack passte, nur sinnloser Ballast. 1947 kehrte Anna Seghers aus dem Exil in Mexiko nach Berlin zurück. Ihr Sohn Peter (Pierre) war schon 1945 nach Paris gekommen, um dort zu studieren. Er fand die Bibliothek seiner Mutter wieder: Sie hatte im Keller des von ihnen bis zum Juni 1940 bewohnten Hauses den Krieg überdauert.
Anna Seghers' Bibliothek dokumentiert ihre bürgerliche Herkunft, jüdische und auch christliche Traditionen, die Studienfächer Kunstgeschichte und Sinologie, das Werk ihrer Freunde und Wegbegleiterinnen. Es finden sich zahlreiche Widmungsexemplare, etliche Bände mit dem Exlibris „Netty Reiling“ (oder dem von Anna Seghers' Mutter, Hedwig Reiling), auffallend viele Kinder- und Märchenbücher, teils auch die Schulbücher ihrer Kinder Peter und Ruth. Die Nachlassbibliothek umfasst knapp 6.500 Titel und steht immer noch in Anna Seghers' Wohnung in Berlin-Adlershof, die original erhalten und als Museum öffentlich zugänglich ist. Wilhelm Busch ist nicht dabei – der Band wird, als früheste Handschrift der Autorin, mit ihrem literarischen Nachlass im Anna-Seghers-Archiv aufbewahrt.
Anna Seghers' erste Schreibübungen sind auch Thema in der Veranstaltung „Close Reading“ am 13.6.2019 um 19 Uhr in der Akademie am Pariser Platz, in der Fundstücke aus Bibliotheken von Autorinnen und Autoren präsentiert, diskutiert werden – begleitend zu der Ausstellung Erlesene Bibliotheken – Artists' Libraries.
Ansprechpartnerin: Helga Neumann, Literaturarchiv