Alles und nyx New Contemporary Sound
Musik ist der Stoff für die staunenswertesten Seltsamkeiten: Verschiedene Zeiten und Räume existieren simultan, Widersprüchliches geschieht gleichzeitig, Mikro- und Makrowelten, Gegenwärtiges und Vergangenes verwachsen zu multiplen Einheiten. Komponisten bewegen sich mit großer Virtuosität in diesen Paralleluniversen. „New Contemporary Sound“ stellt eine stattliche Phalanx von ihnen vor. Sie alle sind Stipendiaten der Akademie – ehemalige und aktuelle, die ihren Werkstoff mit zugleich modernsten wie historisch entwickelten Mitteln modellieren, jeder mit eigenem Klang und dem Faible für fantastische Konstruktionen: Mark Barden, Emanuele Casale, Aureliano Cattaneo, Kee Yong Chong, Ali Gorji, Pierre Jodlowski, Gordon Kampe, Sven Ingo Koch, Genoël von Lilienstern, Sergej Newski, Hèctor Parra, Sebastian Stier, Fredrik Wallberg (UA). Es spielt das ensemble mosaik.
ensemble mosaik
Bettina Junge - Flöte
Simon Strasser - Oboe
Christian Vogel - Klarinette
Martin Losert - Saxophon
Aki Yamauchi - Horn
Matthias Jann - Posaune
Gunnhildur Einarsdottir - Harfe
Roland Neffe - Schlagzeug
Ernst Surberg - Klavier
Chatschatur Kanajan - Violine
Karen Lorenz - Viola
Mathis Mayr - Violoncello
Matthias Bauer - Kontrabass
Daniel Plewe - Klangregie
Jakob Diehl - Sprecher
Enno Poppe - Dirigent
Studio für Elektroakustische Musik der Akademie der Künste
PROGRAMM
Bitte den geänderten Programmablauf beachten!
Zum "Fest der Einheit" ist die Freilichtbühne am Brandenburger Tor auch am 6. Oktober 2012 bis in die Nacht hinein musikalischer Schauplatz. Um akustische Beeinträchtigungen zu vermeiden, werden Konzertteile unseres Programms ausgetauscht.
18.00 Uhr, Plenarsaal
ENSEMBLE I
Sergej Newski Alles für Sprecher und Ensemble (2008)
Kee Yong Chong Ocean Waves für Ensemble (2011)
Aureliano Cattaneo Trio IV für Klarinette, Violoncello und Klavier (2006)
Gordon Kampe Feedbacks, Löffel, Tanzbares für Flöte, Klavier, Violoncello (2011)
Der Flügelschlag eines Schmetterlings kann Katastrophen auslösen, behaupteten Chaostheoretiker in den 1970er Jahren. Winzige Abweichungen genügen für größte Umbrüche. Der Malaysier Kee Yong Chong nutzt diese Beobachtungen, um aus den Gesetzen der nichtlinearen dynamischen Systeme künstlerische Bauprinzipien für sein Stück Ocean Waves abzuleiten. Genauigkeit im Einzelnen gilt auch für die Arbeitsweise der anderen Komponisten. Gleichzeitig kalkulieren sie die Spannung zur makroskopischen, formal integrierenden Ebene. Aureliano Cattaneo beschäftigt vor allem eine Dualität, wie sie in Spiegeln, Echos oder in Schatten erscheint: der Widerspruch von Gleichklang und Kontrast, aus dem er leichte und geschmeidige Klangtexturen webt. Für Sergej Newski erhalten Polaritäten etwa durch verschiedene Kontexte besonderes Gewicht. Er kombiniert mit Vorliebe heterogene Materialien aus alltäglichen Zusammenhängen mit rigiden Konstruktionsanordnungen. Gordon Kampe treibt solche Reibungen ins Extrem und schlägt aus willkürlichen Entgegensetzungen, oft von Comics oder Filmserien inspiriert, gestalterische Funken.
19.30 Uhr, Plenarsaal
ENSEMBLE II
Ali Gorji Merke dir den Flug - der Vogel ist sterblich für Ensemble (2011)
Hector Parra Early Life für Oboe, Klavier und Streichtrio (2011)
Mark Barden gauze II für Ensemble (2010)
Nichts weniger als die Entstehung des Lebens auf der Erde verhandelt der spanische Komponist Hector Parra in seinem Stück Early Life. Er ließ sich von der Theorie des schottischen Evolutionsbiologen Graham Cairns-Smith begeistern, nach der Entwicklungssprünge aus einer Folge von Fehlerreplikationen zu erklären wären. In seinem musikalischen Labor stellt Parra einen solchen Prozess nach, kreiert kurze, kristalline Pattern, die wuchern, interagieren und zu mikro-dramatischen, quasi-organischen Strukturen mutieren. Bei Mark Barden ist es ein schlichter Verbandsstoff - Gaze -, der ihm als Metapher für Materielles und Anorganisches dient. Das eigentliche Geschehen passiert unter dieser Oberfläche. Dort ist Wachstum, sind Grenzen aufgehoben, fließen Körperliches und Geistiges ineinander. Die subkutane Dimension im Stück des Iraners Ali Gorji beherrschen Texte der persischen Dichterin Forough Farrokhzad (1943-1967). Aus ihren Gedankenspuren, dem Duktus und Nachhall ihrer Verse hat er den Klangraum seiner Musik entworfen.
20.45 Uhr Black Box
KAMMERMUSIK
Sebastian Stier Weiße Flecken - Miniaturen und Improvisationen für Violoncello, Schlagzeug und Klavier (2010)
Sven Ingo Koch Wald I. Diptychon für Gerhard Richter und Eduardo Ventura für Violine und Viola (2010)
Fredrik Wallberg Trio für Klarinette, Cello und Vibraphon (2010)
Weiße Flecken in der Black Box mit dem großen Grau Gerhard Richters als Bezugspunkt - New Contemporary Sound eröffnet mit einem koloristischen Dreiklang, der zunächst, eher zufällig, aus der Kombination der Stücke und des Spielorts resultiert, doch auch manchen Verweis auf strukturelle Hintergründe offenbart. Die monochrome Folie zeigt sich nämlich bei näherer Betrachtung als durchaus komplexes Gebilde. Es ist eine Frage der Distanz, welche die Komponisten hier hörend zu erkunden geben. Die Weißen Flecken Sebastian Stiers erlangen ihre Strahlkraft über hinzugefügte Verschattungen, zwischengeschaltete Improvisationen, die - wie in der Malerei der Fläche - dem Klang Volumen und Körperlichkeit verleihen. Sven Ingo Koch hat sich für den ersten Teil seines Diptychons Wald I von den 1973 entstandenen Grauen Bildern Gerhard Richters anregen lassen. Er antwortet musikalisch mit einem spiralförmigen Geflecht vielfältigster klanglicher Verknüpfungen. Im Trio von Fredrik Wallberg werden die Stimmen von Klarinette, Cello und Vibraphon derart miteinander verzahnt, dass die Sinnfälligkeit der Harmonik sich nur im Gesamtklang erschließt.
anschließend, Black Box
ELECTRONICS
Emanuele Casale 5 für Flöte, Klarinette und Digitalklänge (2003)
Genoël von Lilienstern nyx. raum-solo für mehrkanaltonband und präparierte lautsprecher (2009)
Pierre Jodlowski Collapsed für Saxophon, Schlagzeug und Electronics (2007)
Die Faszination durch Technik ist längst nicht mehr von der Frage nach ihren Folgen zu trennen. Ihr Doppelgesicht begegnet uns Tag für Tag. Es steht für Zerstörung genauso wie für die alleinige Möglichkeit, der künftigen Herausforderungen in der Welt überhaupt Herr zu werden. In Genoël von Liliensterns nyx agieren Lautsprecher wie roboterähnliche Wesen. Der Komponist, auch Instrumentenbauer, untersucht ihr Potential für szenische und gestische Assoziationen, die dem Bewusstsein Lebendigkeit vorgaukeln. Emanuele Casale hingegen zwingt die konträren Ebenen aus digitalem Sound und Instrumentalklang zu einem in sich verschränkten Ganzen, das aus „actions“ und „re-actions“ ein wechselseitiges Bezugssystem formt. Die Arbeiten des französischen Komponisten, Multimediakünstlers und Performers Pierre Jodlowski zielen jenseits rein musikalischer Phänomene auf den politischen Einspruch. Seine hochintensiven Stücke wirken wie Sprengsätze, er mobilisiert äußerste Energien - und stellt doch gleichzeitig in Collapsed diese Strategie in Frage.
Alle Komponisten des Programms waren bzw. sind Stipendiaten der Akademie der Künste.
Das ensemble mosaik gehört zu den profiliertesten Ensembles für zeitgenössische Musik und setzt sich seit seiner Gründung 1997 besonders für experimentelle Kompositions- und Aufführungskonzepte ein.