Wiederverwendung
Das Symposium begleitet die Ausstellung zum Planen und Bauen im Nationalsozialismus und hinterfragt den Umgang mit den Hinterlassenschaften der Diktaturen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa. Die Referent*innen stellen beispielhaft Orte in Deutschland, Italien, Polen, Spanien und der Ukraine vor. In der europäischen Erinnerungspolitik herrscht oft ein nationaler Tunnelblick. Für einen kulturellen und politischen Austausch über den jeweiligen Umgang ist es daher an der Zeit.
Deutschland pflegt heute eine Erinnerungskultur, die sich von anderen Ländern deutlich unterscheidet. In Italien wird nahezu jedes wichtige Bauwerk, jeder Bautypus, jeder Architekt der Diktatur von Experten gewürdigt. Die als Kunstwerke deklarierten Bauten werden oft über, ja außerhalb des historischen Kontextes positioniert. Architektur und Symbole der Diktatur wie die fasci – Bündel aus mehreren hölzernen Ruten, die oft auch Rutenbündel genannt werden – und faschistische Jahreszahlen werden nicht nur erhalten und gepflegt, sondern auch wiederhergestellt. Vor Ort gibt es in der Regel keine historischen Erläuterungen. In Russland wurde die Erinnerung an die Stalinzeit während der Putin-Ära Schritt für Schritt verstaatlicht, gelenkt und in eine Huldigung transformiert.
In Spanien wurde über Jahrzehnte das Vergessen gesetzlich gefördert. Dies ändert sich gegenwärtig, wie die 2019 erfolgte Umbettung der sterblichen Überreste von General Franco und die Umbenennung des Valle de los Caídos („Tal der Gefallenen“) nordwestlich von Madrid in Valle de Cuelgamuros („Tal von Cuelgamuros“) 2022 zeigen – Spaniens größtem Massengrab, das mehr als 30.000 Opfer aus dem Spanischen Bürgerkrieg bestattet und von Franco-Nostalgikern künftig nicht mehr für Kundgebungen genutzt werden darf. In der europäischen Erinnerungspolitik herrscht ein nationaler Tunnelblick. Ein kultureller Austausch über den Umgang mit den Hinterlassenschaften der Diktaturen findet selten statt. Europa bleibt eine Aufgabe auch auf diesem Gebiet.
Mit Harald Bodenschatz, Oleksandr Burlaka, José Manuel Calvo, Marco Costanzi, Uwe Danker, Thomas Flierl, Łukasz Galusek, Benedikt Goebel, Christian Hellmund, Wolfgang Kil, Andreas Kilb, Patrick Leech, HG Merz, Jannik Noeske, Marco Odorizzi, Jacek Purchla, Carolina Rodriguez-López, Piero Sassi, Matthias Sauerbruch, Alexander Schmidt, Carolin Schönemann, Jan Schultheiß, Svitlana Smolenska, Jo Sollich und Max Welch Guerra
Begleitprogramm zur Ausstellung MACHT RAUM GEWALT. Planen und Bauen im Nationalsozialismus
15 Uhr
Begrüßung (HG Merz, Stellvertretender Direktor der Sektion Baukunst der AdK)
15.15 Uhr
Erinnerung auf Europäisch. Einführung (Harald Bodenschatz, Stadtplaner, TU Berlin)
16 Uhr
1. Runde: Wiederwendung in Deutschland (Gesprächsleitung: Carolin Schönemann, Sekretär der Sektion Baukunst der Akademie der Künste, in deutscher Sprache)
Nürnberg:
- Last, Herausforderung, verwertbarer Stadtraum – das Reichsparteitagsgelände und Nürnberg seit 1945 (Alexander Schmidt, Ausstellungskurator des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände, Nürnberg)
- Umnutzung der Kongresshalle Nürnberg (Christian Hellmund, Architekt, gmp, Berlin)
Schleswig-Holstein:
- Neulandgewinnung als zentrales Projekt der frühen NS-Zeit (Max Welch Guerra, Bauhaus-Universität Weimar)
- Neulandhalle auf dem ehem. „Adolf-Hitler-Koog“ (Uwe Danker, Direktor der Forschungsstelle für regionale Zeitgeschichte und Public History (frzph) der Europa-Universität Flensburg)
17.30 Uhr
Pause
18 Uhr
2. Runde: Europäische Hauptstädte (Gesprächsleitung: Piero Sassi, in englischer Sprache)
Madrid:
- Die Universitätsstadt von Madrid – Geschichte und Gegenwart (Carolina Rodríguez-López, Facultad de Geografía e Historia, Universität Madrid)
- Umgang mit dem Architekturerbe der Franco-Diktatur am Beispiel des Siegesbogens (José Manuel Calvo, Kommunalpolitiker, Madrid)
Rom:
- EUR. Projekt und Realisierung (Jannik Noeske, Städtebauhistoriker, Berlin/Weimar)
- Fendi HQ, Palazzo della Civiltà Italiana (Marco Costanzi, Architekt)
Ab 19.30 Uhr
Sonderführungen durch die Ausstellung „MACHT RAUM GEWALT. Planen und Bauen im Nationalsozialismus“ mit den Kuratoren Benedikt Goebel und Harald Bodenschatz
Sonntag, 2.7.2023
10 Uhr
Der Tagungsort Pariser Platz 4 und der GBI (Benedikt Goebel, Historiker, Berlin, in deutscher Sprache)
10.30 Uhr
3. Runde: Private und kommunale Wiederverwendung (Gesprächsleitung: HG Merz, Architekt, Berlin)
Berlin:
- Luftrüstungszentrum Großraum Berlin (Jo Sollich, Architekt, Berlin) – in deutscher Sprache
- Luftgaukommando III (privater Umbau) (Matthias Sauerbruch, Architekt, Berlin) – in deutscher Sprache
Tresigallo bei Ferrara:
- Eine landwirtschaftliche Neustadt (Piero Sassi, Bauhaus-Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Planung, Weimar) – in deutscher Sprache
- SOGNI und kreative Aktionen: Erinnerung und Zukunft (Marco Odorizzi, Vertreter der Comune di Tresignana) – in englischer Sprache
12 Uhr
Pause
13 Uhr
4. Runde: Umstrittenes Erbe in Polen und in der Ukraine (Gesprächsleitung: Wolfgang Kil, Journalist, Berlin)
Kraków:
- Ungewollte Hauptstadt – die Erfahrung Kraków (Jacek Purchla, Historiker, Kraków) – in englischer Sprache
- Der Umgang mit dem zwiespältigen Erbe des Dritten Reichs in der heutigen Stadt (Łukasz Galusek, Architekt, Kraków) – in englischer Sprache
Kharkiv/Ukraine:
- Multiple Moderne in der Ukraine. Bau, Zerstörung und Wiederaufbau des DniproHES (Thomas Flierl, Architekturhistoriker, Berlin) – in deutscher Sprache
- Svoboda (Freedom) Square Ensemble in Kharkiv/Ukraine (Svitlana Smolenska, Architektin, Kharkiv/Berlin) – in englischer Sprache
- Das Projekt „Regierungsplatz“ in Kiew (Oleksandr Burlaka, Architekt, Fotograf, Kiew) – in englischer Sprache
15 Uhr
Abschlusspodium (Moderation: Andreas Kilb, Journalist, Berlin, in deutscher Sprache)
Das bauliche Erbe der Diktaturen – Perspektiven europäischer Erinnerungskultur
mit Jan Schultheiß (Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen), Patrick Leech (ATRIUM Association, Forlì) und Harald Bodenschatz (Stadtplaner, Berlin)